Zwanzig Jahre nachher (German Edition)
Uhr können wir anlangen: dann haben die Pferde die ganze Nacht, um auszuruhen, und morgen früh um fünf Uhr begeben wir uns wieder auf den Weg.« Olivain getraute sich nicht, diesem Beschlüsse zu widerstreben, doch folgte er murrend. »Nur fort! nur fort!« murmelte er zwischen seinen Zähnen, »vergeudet Euer Feuer schon am ersten Tage, morgen werdet Ihr statt zwanzig nur zehn Meilen weit kommen, übermorgen nur fünf und in drei Tagen liegt Ihr im Bette. Da müßt Ihr Euch wohl ausrasten. Alle diese jungen Leute sind nur Großsprecher.« Man sieht, Olivain war nicht in der Schule gebildet wie die Blanchets und Grimauds. So ritt er immer weiter, und da er Olivains Bemerkungen zum Trotze den Schritt seines Pferdes mehr und mehr beschleunigte, und einen reizenden Feldweg einschlug, der zu einer Fährte führte, und die Reise, wie man ihm versicherte, um eine Meile abkürzte, so gelangte er auf den Gipfel einer Anhöhe und erblickte vor sich den Fluß. Es hielt eben eine kleine Schar Männer am Ufer, und schickte sich an überzufahren. Rudolf zweifelte nicht, daß das der junge Edelmann mit seinem Gefolge sei; er erhob einen Ruf, doch war er noch zu weit entfernt, um vernommen zu werden; nun setzte Rudolf sein Pferd, ob es auch schon müde war, in Galopp, jedoch eine Versenkung des Weges raubte ihm alsbald den Anblick der Reisenden, und als er auf eine neue Anhöhe kam, hatte die Fährte bereits das Ufer verlassen und steuerte dem jenseitigen zu.
Als Rudolf sah, daß er nicht mehr früh genug ankommen könnte, um zugleich mit den Reisenden überzuschiffen, hielt er an und wartete auf Olivain. In diesem Momente hörte man ein Geschrei, das vom Flusse zu kommen schien. Rudolf wandte sich nach der Richtung hin, woher das Schreien kam, hielt die Hand vor seine von der Sonne geblendeten Augen und rief aus: »Was sehe ich denn dort. Olivain?« Da erschallte ein zweites, noch durchdringenderes Geschrei. »O, gnädigster Herr, das Seil der Fährte ist gerissen und das Schiff gleitet ab. Doch was sehe ich im Wasser – es plätschert!« »Ha, gewiß,« rief Rudolf aus, und heftete seine Blicke auf einen Punkt des Ufers, den die Sonnenstrahlen glänzend beschienen, »es ist ein Pferd – ein Reiter!« – »Sie versinken!« schrie Olivain.
Das geschah in Wahrheit, und auch Rudolf war überzeugt, daß da ein Unglück vorging und ein Mensch ertrinke. Er ließ seinem Pferde die Zügel, setzte die Sporen ein, und vom Schmerz angestachelt, sprang das Tier, dem Raum überlassen, über eine Art Geländer, welches den Überfahrtsplatz einschloß, und stürzte in den Fluß, wobei es weithin schäumende Wellen spritzte. »O, gnädigster Herr,« rief Olivain, »was tun Sie denn? Ach, mein Gott!« Rudolf lenkte sein Pferd nach dem Gefährdeten. Übrigens war das eine Übung, mit der er schon vertraut war. Erzogen an den Ufern der Loire, ward er gleichsam in ihren Wellen gewiegt, hundertmal hatte er zu Pferd, tausendmal schwimmend an das andere Ufer gesetzt. Athos hatte ihn mit Hinblick auf die Zeit, wo er ihn zum Krieger bilden würde, an alle diese Wagnisse gewöhnt. »Ach, mein Gott!« fuhr Olivain verzweiflungsvoll fort: »was würde der Herr Graf sagen, wenn er Sie erblickte?« »Der Herr Graf machte es wie ich,« entgegnete Rudolf und trieb sein Pferd dringlich an. »Aber ich! aber ich!« stammelte Olivain, blaß und verzweifelt am Ufer auf und ab reitend, wie komme denn ich über den Fluß?« »Spring' hinein. Feiger!« rief Rudolf, und schwamm immer weiter. Dann wandte er sich gegen den Reisenden
der sich zwanzig Schritte weiter von ihm abrang und rief ihm zu: »Mut, mein Herr, Mut! man eilt Ihnen schon zu Hilfe.« Olivain ritt vor, wich zurück, ließ sein Pferd sich bäumen, ließ es sich wenden, und sprengte zuletzt von Scham gespornt in den Strom, wie es Rudolf getan, schrie aber wiederholt:»Ich bin tot, wir sind verloren!«
Inzwischen hatte sich die Fähre, von der Flut fortgerissen, schnell entfernt, und man hörte diejenigen schreien, welche sie mit sich trug. Ein Mann mit grauen Haaren warf sich aus der Fähre in den Fluß und schwamm behend auf die gefährdete Person zu; da er aber gegen den Strom schwimmen mußte, kam er nur langsam heran. Rudolf setzte seinen Weg fort, und zwar mit Erfolg, allein der Reiter und das Pferd, die er nicht aus den Augen ließ, sanken sichtlich unter. Das Pferd war nur noch mit den Nüstern über dem Wasser, und der Reiter, der im Todeskampfe die Zügel losgelassen, streckte die Hände
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