Zwei an Einem Tag
dafür möchte ich dir danken und sagen, nichts für ungut, Kumpel, ich wünsche dir alles, alles Gute für dein Leben.
Entschuldige, dass der Brief etwas rührselig wird. So ein Jahrestag ist schwer für uns alle, besonders für ihre Familie und für dich, ich hasse dieses Datum, und ich werde es von jetzt an jedes Jahr hassen. In Gedanken bin ich heute bei dir. Ich weiß, du hast eine wunderbare Tochter, und ich hoffe, sie gibt dir etwas Trost und Freude.
Tja, ich muss jetzt Schluss machen! Sei glücklich, sei brav und halt die Ohren steif! Nutze den Tag und dieser ganze Mist. Ich denke, Emma hätte es so gewollt.
Alles Gute (oder Liebe, wenns denn sein muss)
Ian Whitehead
»Dexter, hörst du mich? Oh Gott, was hast du gemacht? Hörst du mich, Dex? Mach die Augen auf, hörst du?«
Als er aufwacht, ist Sylvie da. Aus irgendeinem Grund liegt er eingequetscht zwischen Tisch und Sofa auf dem Boden in seiner Wohnung, und sie steht vor ihm und versucht unbeholfen, ihn herauszuziehen, damit er sich aufsetzen kann. Seine Kleidung ist feucht und klebrig, und er bemerkt, dass er sich im Schlaf übergeben hat. Er ist entsetzt und beschämt, kann sich aber nicht bewegen, und Sylvie ächzt und keucht, die Hände unter seine Achseln geklemmt.
»Oh, Sylvie«, sagt er, bemüht, ihr zu helfen, »es tut mir so leid. Ich habs mal wieder verkackt.«
»Setz dich auf, tus für mich, ja, Liebling?«
»Ich bin am Arsch, Sylvie. So was von am Arsch …«
»Alles wird gut, du musst dich nur ausschlafen. Ach, wein doch nicht, Dexter. Hör mir zu, ja?« Sie kniet sich vor ihn hin, legt ihm die Hände aufs Gesicht und sieht ihn mit einer Zärtlichkeit an, wie er es während ihrer Ehe selten erlebt hat. »Wir machen dich sauber, bringen dich ins Bett, und du schläfst dich aus. Okay?«
Hinter ihr sieht er eine Gestalt ängstlich im Türrahmen herumlungern: seine Tochter. Er stöhnt auf und hat das Gefühl, sich wieder übergeben zu müssen, so siedendheiß überläuft ihn die Scham.
Sylvie folgt seinem Blick. »Jasmine, Schatz, bitte warte nebenan, ja?«, sagt sie so ruhig wie möglich. »Daddy gehts nicht gut.« Jasmine rührt sich nicht vom Fleck. »Ich hab gesagt, du sollst nach nebenan gehen!«, sagt Sylvie, jetzt leicht panisch.
Er will unbedingt etwas sagen, um Jasmine zu beruhigen, aber sein Mund ist so lädiert und geschwollen, dass er kein Wort über die Lippen bringt, deshalb gibt er auf und legt sich wieder hin. »Nicht bewegen, bleib einfach, wo du bist«, sagt Sylvie, geht aus dem Zimmer und nimmt ihre Tochter mit. Er macht die Augen zu, wartet und betet, dass es vorübergeht. Aus dem Flur hört er Stimmen. Telefonate werden geführt.
Als Nächstes nimmt er wahr, dass er unbequem unter einer karierten Decke auf dem Rücksitz eines Autos liegt. Er zieht sie enger um sich – obwohl es ein warmer Tag ist, zittert er ohne Unterlass – und bemerkt, dass es die alte Picknickdecke ist, was ihn zusammen mit dem Geruch der abgewetzten, weinroten Polster an Familienausflüge erinnert. Mühsam hebt er den Kopf und schaut aus dem Seitenfenster. Sie sind auf der Autobahn. Im Radio läuft Mozart. Er sieht den Hinterkopf seines Vaters, feines, silbergraues Haar, sorgfältig gestutzt bis auf die Büschel, die ihm aus den Ohren wachsen.
»Wohin fahren wir?«
»Nach Hause. Schlaf weiter.«
Sein Vater hat ihn entführt. Einen Augenblick erwägt er zu widersprechen: Bring mich zurück nach London, es geht mir gut, ich bin kein Kind mehr. Aber das Leder an seinem Gesicht fühlt sich warm an, und er hat nicht mal die Kraft, sich zu bewegen, geschweige denn zu widersprechen. Wieder schaudert er, zieht sich die Decke bis zum Kinn hoch und schläft ein.
Er wird geweckt vom Geräusch der Räder auf der Kiesauffahrt des geräumigen, robusten Einfamilienhauses. »Rein mit dir«, sagt sein Vater und öffnet ihm die Tür wie ein Chauffeur. »Es gibt Suppe!«, und er geht zum Haus und wirft schwungvoll die Autoschlüssel in die Luft. Anscheinend will er so tun, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert, wofür Dexter ihm dankbar ist. Gebeugt und unsicher klettert er aus dem Wagen, streift die Picknickdecke ab und folgt ihm ins Haus.
In dem kleinen Badezimmer im Erdgeschoss mustert er sein Spiegelbild. Auf der Unterlippe hat er kleine Wunden und blaue Flecken und auf einer Seite des Gesichts einen großen gelbbraunen Bluterguss. Als er versucht, die Schultern zu bewegen, tut ihm der Rücken weh, und die Muskeln fühlen sich überdehnt und
Weitere Kostenlose Bücher