Zwei an Einem Tag
gezerrt an. Er zuckt zusammen und begutachtet seine Zunge, die eitrig, an den Seiten wund und von einem grauen Belag überzogen ist. Mit der Zungenspitze fährt er sich über die Zähne, die anscheinend nie mehr richtig sauber werden, und nimmt den eigenen Mundgeruch wahr, der vom Spiegel zurückgeworfen wird – faulig, als verrotte etwas in seinem Inneren. Geplatzte Äderchen überziehen Nase und Wangen. Er trinkt wieder regelmäßig, abends und häufig auch am Tag, und hat deutlich zugenommen: Sein Gesicht ist aufgedunsen und schlaff, die Augen permanent feucht und rot.
Er lehnt den Kopf an den Spiegel und atmet aus. In den Jahren, die er mit Emma zusammen war, hat er sich manchmal müßig gefragt, wie das Leben ohne sie wäre, nicht auf trübsinnige, sondern rein pragmatische, spekulative Art, denn tun das nicht alle Liebenden manchmal? Sich fragen, wie es ohne sie wäre? Der Spiegel gibt ihm die Antwort. Der Verlust hat ihm keine tragische Größe verliehen, sondern ihn tumb und banal gemacht. Ohne sie hat er keinerlei Vorzüge, Tugenden oder Ziele, ist ein heruntergekommener, einsamer, alternder Säufer, zerfressen von Scham und Schuldgefühlen. Eine Erinnerung an den Morgen steigt ungebeten in ihm auf: Sein eigener Vater und seine Ex-Frau haben ihn ausgezogen und ihm ins Bad geholfen. In zwei Wochen wird er 41, und sein Vater hilft ihm ins Bad. Warum haben sie ihn nicht einfach ins Krankenhaus gefahren und ihm den Magen auspumpen lassen? Das wäre würdevoller gewesen.
Sein Vater spricht im Flur mit seiner Schwester, schreit praktisch ins Telefon. Dexter setzt sich auf die Badewanne und muss sich nicht mal anstrengen, dem Gespräch zu lauschen. Es ist nicht zu überhören.
»Er hat die Nachbarn geweckt, als er seine Tür eintreten wollte. Sie haben ihn hereingelassen … Sylvie hat ihn auf dem Boden gefunden … anscheinend hat er nur zu viel getrunken … nur Schnitte und Blutergüsse … keine Ahnung. Wie auch immer, wir haben ihn wieder auf Vordermann gebracht. Morgen ist er wieder auf dem Damm. Willst du vorbeikommen und hallo sagen?« Im Badezimmer betet Dexter, dass seine Schwester nein sagt, und offenbar ist sie auch nicht sehr erpicht darauf. »Na gut, Cassie. Vielleicht rufst du ihn morgen früh an, ja?«
Nachdem Dexter sich vergewissert hat, dass sein Vater weg ist, tappt er durch den Flur in die Küche. Er trinkt lauwarmes Leitungswasser aus einem staubigen Bierglas und betrachtet den in Abendlicht getauchten Garten. Der Swimmingpool ist leer und mit einer durchhängenden blauen Plane abgedeckt, der Tennisplatz an einigen Stellen überwuchert. Auch in der Küche riecht es modrig, als ob irgendwo etwas verrottet. Zimmer für Zimmer wurde das geräumige Familienhaus dichtgemacht, so dass sein Vater jetzt nur noch die Küche, ein Wohn-und ein Schlafzimmer bewohnt, trotzdem ist es zu groß für ihn. Seine Schwester sagt, er schläft manchmal auf dem Sofa. Besorgt haben sie ihn gefragt, ob er nicht ausziehen und sich etwas Überschaubareres zulegen will, eine kleine Wohnung in Oxford oder London, aber sein Vater will nichts davon hören. »Ich gedenke, in meinem eigenen Haus zu sterben, wenns euch nichts ausmacht«, sagt er, ein Argument, das jede Diskussion im Keim erstickt.
»Gehts besser?« Sein Vater steht hinter ihm.
»Ein bisschen.«
»Was ist das?« Mit dem Kopf deutet er auf Dexters Glas. »Doch wohl kein Gin?«
»Nur Wasser.«
»Freut mich zu hören. Ich dachte, anlässlich des besonderen Tages gibts Suppe zum Abendessen. Kriegst du eine Dosensuppe runter?«
»Ich denk schon.«
Er hält zwei Dosen hoch. »Curry oder Hühnercreme?«
Die beiden Männer schlurfen in der großen, muffigen Küche herum, zwei Witwer, die mehr Chaos anrichten, als nötig wäre, um zwei Dosen Suppe aufzuwärmen. Seit sein Vater allein lebt, ernährt er sich wie ein ehrgeiziger Pfadfinder: Baked Beans, Würstchen und Fischstäbchen; angeblich hat er sich sogar schon mal eine Pfanne Wackelpudding gemacht.
Im Flur klingelt das Telefon. »Gehst du mal ran?«, sagt sein Vater, der Weißbrotscheiben mit Butter beschmiert. Dexter zögert. »Es beißt nicht, Dexter.«
Es ist Sylvie. Dexter setzt sich auf die Treppe. Seine Ex-Frau lebt jetzt allein, die Beziehung mit Callum ist kurz vor Weihnachten in die Brüche gegangen. Die Tatsache, dass beide unglücklich sind und Jasmine davor schützen wollen, hat sie einander erstaunlich nahe gebracht, und zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit sind sie fast befreundet.
»Wie
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