Zwei auf Achse
Wolken und dürfte mich nicht bewegen, weil ich sonst ‘runtersegeln würde.“
Herr Tepel nickte.
„Genau“, sagte er, „so geht es einem! Ich bildete mir damals ein, ich wäre ein feindlicher Spion und müßte unbedingt herausfinden, wie viele Betten es in dem Krankenhaus gab. Ich besorgte mir einen Bleistift und einen Bogen Papier, wanderte von Zimmer zu Zimmer und zählte, so unauffällig es gehen mochte, die Betten darin. Die Ergebnisse meiner Zählungen notierte ich und achtete darauf, daß niemand sie zu sehen bekam.“
„So was Verrücktes!“ bemerkte Joachim. „Ein Spion, der Betten zählt!“
„Du hast recht“, bestätigte Herr Tepel, „das war wirklich verrückt. Den Ärzten entging mein merkwürdiges Verhalten natürlich nicht. Sie schrieben es meiner Hirnverletzung zu, ließen mich gewähren und kümmerten sich nicht weiter darum.“
„Und plötzlich waren Sie dann wieder voll da, nicht?“ rief Joachim dazwischen. „Bei mir war’s jedenfalls so. Auf einmal bums! merkte ich, daß ich nicht auf den Wolken lag, sondern in meinem Bett.“
„Bei mir ging es nicht mit einem Bums“, erzählte Herr Tepel weiter, „bei mir ging es ganz allmählich, schrittweise, fast unmerklich für mich selbst. Eine Krankenschwester aus dem Lazarett in Dillingen, wißt ihr, nahm sich meiner besonders an. Sie fand täglich Zeit, an meinem Bett zu sitzen oder eine halbe Stunde mit mir durch den Park zu gehen, und ihr verdanke ich es wahrscheinlich, daß ich überhaupt wieder gesund wurde. Sie war es auch, die mich tröstete, als ich die Nachricht erhielt, daß meine Frau und mein Sohn Lutz auf der Flucht durch einen Bombenangriff ums Leben gekommen waren. Ihre Fürsorge ging so weit, daß sie mich selbst nach Kriegsende und meiner Entlassung aus dem Lazarett nicht aus den Augen ließ, fürchtete sie doch immer noch, ich könnte mir etwas antun. Ich war aus Schlesien, sie aus Ostpreußen, wir hatten beide unsere Heimat verloren. Ich besaß niemand mehr, der mir nahestand, und auch ihre Angehörigen waren bis auf die jüngste Schwester alle Opfer des Krieges geworden.
1946 heirateten wir. Schwester Hildegard ist seitdem meine Frau. Sie hat für mich gehungert und für mich gearbeitet, und durch sie allein bekam mein Leben wieder einen Sinn. Ohne sie wäre ich nicht zurechtgekommen. Ich erhielt nämlich keine Arbeit in meinem erlernten Beruf. Ich bin Dachdecker, müßt ihr wissen. Und obwohl in Deutschland bald der Wiederaufbau begann und jede Hand gebraucht wurde, wollte mich kein Meister einstellen. Alle fürchteten, ich könnte auf dem Dach wegen meiner Hirnverletzung einen Anfall bekommen und abstürzen. Außerdem sei ich mit meinem steifen Bein auch nicht wendig und geschickt genug. So konnte ich nur durch Gelegenheitsarbeiten unsere Haushaltskasse hin und wieder aufbessern. Natürlich bekam ich eine Versehrtenrente als Kriegsbeschädigter, aber davon allein hätte ich nicht leben können.“
Herr Tepel machte wieder eine Pause, um ein Stück Holz nachzulegen.
„Mensch, da haben Sie ja ganz schön was hinter sich“, sagte Joachim. „Wenn ich mir vorstelle, ich müßte das auch alles erleben!“
Herr Tepel sah ihn an.
„Tja“, sagte er, „man gut, daß man nicht weiß, was alles auf einen wartet. Sonst würde man wohl oft den Mut verlieren. Aber nun trinkt doch, der Kaffee wird ja kalt!“ Das Gewitter zog ab.
Sturm und Regen aber nahmen noch zu. Der Wind stemmte sich so heftig gegen das Haus, als wollte er es umstoßen.
„Au, Backe!“ rief Joachim. „Wer jetzt draußen ist, braucht aber ‘ne wasserdichte Oberbekleidung! Hoffentlich kippt das Haus nicht um!“
„Meins wohl nicht“, sagte Herr Tepel, „das hat schon mehrere solcher Stürme heil überstanden, aber wie steht’s mit eurem?“
„Mit unserm?“ wiederholte Joachim erschrocken. „Wieso? Wie meinen Sie das?“
„So, wie ich es sage. Ihr wohnt doch auch irgendwo, oder etwa nicht?“
„Natürlich!“ rief Joachim. „Jeder Mensch wohnt irgendwo.“
„Na ja“, sagte Herr Tepel gedehnt, „es gibt natürlich auch einige, die keine Bleibe haben und einfach in einer Scheune, in einem Graben oder einer Höhle schlafen müssen. Und die sind in einem solchen Wetter natürlich übel dran. Oder glaubst du, daß du deine gute Laune behältst, wenn du irgendwo im Wald patschnaß unter den Bäumen liegst und darauf wartest, daß der nächste Blitz dir den Schädel spaltet?“
„Nee, ganz bestimmt nicht“, sagte Joachim. „Ich
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