Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwei bemerkenswerte Frauen

Zwei bemerkenswerte Frauen

Titel: Zwei bemerkenswerte Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
Vom Netzwerk:
er nicht an Joe adressiert gewesen wäre. Ich hätte ihn in kleine Fetzen gerissen und alles ins Feuer geworfen, Brief und Fossilienliste.
    Der Brief. Ich hatte ihn noch gar nicht gelesen. Ich spürte einen so stechenden Schmerz hinter den Augen, dass ich bezweifelte, noch irgendetwas entziffern zu können. Doch ich faltete ihn auf, strich ihn glatt und rieb mir die Augen, bis mein Blick ruhig auf den Worten lag. Dann begann ich zu lesen.
    Als ich fertig war, hatte es mir die Kehle so zugeschnürt, dass ich nicht mehr schlucken konnte. Und mir war heiß im Gesicht, als wär ich die ganze Broad Street hochgerannt. Bis Mam und Joe kamen, schluchzte ich so heftig, dass ich glaubte, mein Herz herauszuwürgen.
    Dreimal in der Woche traf eine Kutsche aus London ein, und jede von ihnen brachte mir Antworten auf die rätselhaften Vorgänge dort.
    Als Erstes kam der Zeitungsbericht. Normalerweise hatten wir kein Geld für Zeitungen, doch diesmal brachte Mam eine mit nach Hause. «Wir müssen ja rausfinden, ob wir uns diese Zeitung leisten können», lautete ihre komische Erklärung. Meine Hände haben so gezittert, dass ich kaum umblättern konnte. Auf Seite drei fand ich dann die Meldung, die ich Mam und Joe laut vorlas:
    Eine Auktion von Mr Bullock in seiner Ägyptischen Halle brachte gestern mehr als 400 Pfund ein. Versteigert wurde die Fossiliensammlung des Lt.-Col. Thomas Birch, vormals Mitglied der Leibgarde, die ein besonders schönes Exemplar eines Ichthyosauriers enthielt, der für 100 Pfund an das Royal College of Surgeons ging. Lt.-Col. Birch kündigte an, das Geld sei für die Familie Anning in Lyme Regis bestimmt, die ihm beim Zusammenstellen der Sammlung geholfen habe.
    Die Meldung war kurz, sagte aber alles Wichtige. Als ich es schwarz auf weiß las, wurden meine Hände eiskalt.
    Mam war normalerweise sehr vorsichtig mit Geld und plante nicht damit, solange sie es nicht in Händen hielt. Doch dass es in der Zeitung stand, war für sie der Beweis, dass wir das Geld tatsächlich bekommen würden. Sofort begann sie mit Joe zu beratschlagen, was wir damit anfangen sollten. «Wir bezahlen unsere Schulden», sagte Joe. «Und dann können wir überlegen, ob wir uns ein Haus weiter oben kaufen, wo es trockener ist.» Der Cockmoile Square stand regelmäßig unter Wasser, da der Fluss oder das Meer immer wieder über die Ufer traten.
    «Umziehen will ich nicht unbedingt», erwiderte Mam, «aber wir brauchen neue Möbel. Und du wirst Geld brauchen, um dir eine richtige Polstererwerkstatt einzurichten.»
    So redeten und redeten sie. Plötzlich konnten sie Pläne machen, die sie sich noch vor einer Woche niemals erträumt hätten. Sie genossen das schöne Gefühl, dem «Armenhaus ins Gesicht furzen zu können», wie Mam es formulierte. Es war schon komisch, wie schnell die beiden die Armut vergessen hatten und sich für reich hielten. Ich sagte die ganze Zeit kein Wort, was auch niemand von mir erwartete. Wir wussten alle, dass wir das Geld mir verdankten. Ich hatte meinen Teil getan und konnte mich jetzt wie eine Königin zurücklehnen, die den Rest von ihren Höflingen erledigen lässt.
    Außerdem hatte ich anderes im Kopf als ihre Zukunftspläne. Am liebsten wäre ich auf die Klippen hinausgelaufen, um in der Einsamkeit über Colonel Birch und die Bedeutung seiner Taten nachdenken zu können. In meiner Vorstellung wollte ich noch einmal seinen Kuss erleben, jeden einzelnen Zug seines Gesichts durchgehen, mich an seine Stimme und alles, was er zu mir gesagt hatte, erinnern; ich wollte an unsere gemeinsam verbrachten Tage denken und daran, wie er mich angesehen hatte. Das war es, was ich machen wollte, während ich an unserem einzigen Tisch saß, der, wenn es nach Mam ging, bald durch einen Mahagonitisch ersetzt werden würde, der mit dem von Lord Henley konkurrieren konnte.
    Ich holte das Medaillon aus seinem Versteck und trug es wieder unter meinen Kleidern. Mit Mam oder Joe wollte ich nicht über Colonel Birch reden, denn ich wusste nicht, ob er Absichten auf mich hatte. Im Brief hatte er nichts erwähnt, aber der war schließlich auch an Joe adressiert gewesen, weil er der Mann der Familie war, und eher formell als liebevoll gehalten. Colonel Birch wollte eben alles richtig machen. Aber welcher Mann würde einer Familie vierhundert Pfund schenken, ohne ernste Absichten zu haben?
    Als die nächste Kutsche aus London eintraf, stand ich bereits wartend in Charmouth. Ich hatte wieder begonnen, an den Strand zu gehen und

Weitere Kostenlose Bücher