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Zwei bemerkenswerte Frauen

Zwei bemerkenswerte Frauen

Titel: Zwei bemerkenswerte Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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«Vielleicht auch länger. Bis jetzt hat noch nie jemand mit einer so großen Kreatur zu tun gehabt.»
    Lord Henley stöhnte auf. Er beäugte den Schädel, als handele es sich um eine Rehkeule in Portsauce. Es war offensichtlich, dass er ihn am liebsten gleich mit nach Colway Manor genommen hätte, denn Lord Henley gehörte zu den Menschen, die lieber Entscheidungen treffen, als auf Ergebnisse zu warten. Doch selbst für ihn war ersichtlich, dass an dem Fossil noch gearbeitet werden musste – einerseits, um es im besten Licht zu präsentieren, aber auch, um es zu konservieren. Der Schädel hatte zwischen den Gesteinsschichten gelegen, wo gleichmäßige Feuchtigkeit herrschte und er vor Licht geschützt war. Einmal freigelegt, würde er sicher bald austrocknen, sich zusammenziehen und dabei Risse bekommen, weshalb Mary ihn mit dem Lack versiegeln musste, den ihr Vater für seine Schränke benutzt hatte. «Na gut», meinte Lord Henley schließlich. «Einen Monat, um ihn zu reinigen, und dann kriege ich ihn.»
    «Wir geben den Schädel erst her, wenn wir auch den Rumpf haben», erklärte Mary.
    Ich blickte sie tadelnd an und schüttelte den Kopf. Mein Plan war, Lord Henley ganz allmählich mit der Tatsache vertraut zu machen, dass er für Schädel und Körper zusammen zahlen sollte, und jetzt pfuschte mir Mary in meine heiklen Verhandlungen. Doch sie ignorierte mich.
    «Wir behalten den Kopf im Cockmoile Square.»
    Lord Henley starrte mich an. «Miss Philpot, wie kommt dieses Kind dazu, sich in unsere Unterhaltung über das Fossil einzumischen?»
    Ich hüstelte in mein Taschentuch. «Nun ja, Sir, sie hat es gefunden – zusammen mit ihrem Bruder –, ich denke also, dass ihre Familie einen gewissen Anspruch darauf hat.»
    «Und wo ist dann der Vater? In dem Fall sollte ich mit ihm reden und nicht mit …» Lord Henley unterbrach sich, als wäre es unter seiner Würde, die Worte «Frau» oder «Mädchen» auszusprechen.
    «Er ist vor ein paar Monaten verstorben.»
    «Dann eben die Mutter. Holen Sie mir die Mutter.» Lord Henley sprach mit mir, als befehle er einem Knecht, ihm sein Pferd zu bringen.
    Es war schwer, sich Molly Anning in Verhandlungen mit Lord Henley vorzustellen. Erst am Vortag hatte sie sich einverstanden erklärt, dass ich Lord Henley davon überzeugen sollte, auf das vollständige Fossil zu warten. Davon, dass sie selbst mit ihm verhandeln könne, war nie die Rede gewesen. Ich seufzte. «Lauf zu und hole deine Mutter, Mary.»
    Betreten schweigend warteten wir darauf, dass Mary mit ihrer Mutter zurückkam, und flüchteten uns so lange in die Betrachtung des Schädels. Ich machte einen Vorstoß: «Für ein Krokodil sind die Augen recht groß, finden Sie nicht, Lord Henley?»
    Lord Henleys Stiefel scharrten über den Boden. «Ganz einfach, Miss Philpot, es ist eine von Gottes frühen Schöpfungen, später hat er dann beschlossen, den Nachfolgern kleinere Augen zu geben.»
    Ich zog die Augenbrauen hoch. «Wollen Sie damit andeuten, dass Gott es ausgemustert hat?»
    «Ich will damit sagen, dass Gott ein besseres Modell wollte – das Krokodil, das wir heute kennen – und deshalb das alte ausgewechselt hat.»
    Diese Sichtweise war mir völlig neu. Gerne hätte ich weiter nachgehakt, aber Lord Henley klang immer so von sich überzeugt, dass ich mich nicht zu fragen traute. In seiner Gegenwart kam ich mir stets fürchterlich dumm vor, obwohl ich doch wusste, dass er von uns beiden der Dümmere war.
    So hatte ich nichts dagegen, dass wir von Molly Anning unterbrochen wurden. Zum Glück hatte sie ihr schreiendes Baby nicht dabei, sondern nur Mary und den Geruch von Kohl im Gefolge. «Ich bin Molly Anning, Sir», sagte sie und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Vermutlich war sie noch nie im Ballsaal gewesen, denn sie blickte sich neugierig um. «Ich kümmer mich um unser Fossiliengeschäft. Was wollen Sie denn von mir?» Sie war genauso groß wie Lord Henley, und dass sie ihn auf Augenhöhe ansprach, schien ihn ein wenig einzuschüchtern. Selbst mich überraschte sie. Noch nie hatte ich jemanden von der Werkstatt als «Geschäft» sprechen hören, auch war mir neu, dass sie sich darum kümmerte. Doch nach dem Tod ihres Mannes hatte Molly Anning viele Aufgaben übernehmen müssen, ein Geschäft zu betreiben schien eine davon zu sein.
    «Ich hätte gern dieses Fundstück, Mrs Anning. Vorausgesetzt, Ihre Tochter erlaubt es», fügte Lord Henley mit einer Spur von Sarkasmus hinzu. «Aber auf Sie wird sie

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