Zwei Geschichten von der See
Schlucken das aromatische Getränk. Wenn man richtig warm geworden war, schlug die Uhr auch schon neun Uhr, mitunter sogar neun Uhr dreißig. So wurde denn der Rest der Geschichte für den nächsten Tag am Bahnhof oder auf dem Platz vorbehalten. Es dauerte nicht lange, da war der Kommandant der bedeutendste und beliebteste Bürger von Periperi. Schon breitete sich sein Ruhm auf andere Vororte aus. Man pries seine Bildung, seine gute Erziehung, seine entwaffnende Herzlichkeit und besonders das völlige Fehlen jeglicher Pose. Und obgleich er eine so bedeutende Persönlichkeit war, behandelte er alle Welt, gleichgültig ob arm oder reich, gleich gut und spielte sich nie auf.
Eines Abends, als der Himmel trüb war und es nach Regen aussah, konnte Rúi Pessoa, der ehemalige Beamte des Rentamts, seine Neugierde nicht mehr bezähmen und fragte den Kommandanten, warum er seinen Beruf verhältnismäßig früh, das heißt vor Erreichung des sechzigsten Lebensjahres, aufgegeben habe, da er soeben erst sechzig geworden und bereits vor drei oder vier Jahren in den Ruhestand getreten sei. Er hätte doch zumindest noch gute zehn Jahre zur See fahren können, oder nicht?
Der Kommandant stellte sein Glas auf den Tischrand – er saß gerade –, blickte zum umwölkten Himmel, und sein Gesicht wurde ernst, fast wehmütig. Er sprach nicht sogleich. Dann ließ er die Augen über die versammelten Freunde gleiten, als wollte er prüfen, ob sie einer vertraulichen Mitteilung würdig seien. Zequinha Curvelo wurde unruhig. Vielleicht hatte Rúi Pessoa eine Indiskretion begangen? Ein Mann vom Schlage des Kommandanten musste zwangsläufig Geheimnisse haben, die in seiner tiefsten Herzenskammer ruhten, es war die Pflicht der Freunde, sein Stillschweigen zu achten. Schon wollte er das Gesprächsthema wechseln, als der Kommandant aufstand, zwei Schritte auf das Fenster zu machte und sagte:
»Wegen einer Frau. Was sollte es anderes sein?«
Dabei deutete er auf die ›Benedikt‹ in ihrem Glaskasten:
»Ich fuhr dieses Schiffchen da, wir trampten auf der Australienroute. Ich habe ja nie heiraten wollen. Es war mir lieber, ein Liebchen hier, eines dort zu haben, je nachdem, welcher Hafen angelaufen wurde …«
Eine Französin in Marseille, eine Türkin in Istanbul, eine Russin in Odessa, eine Chinesin in Shanghai, eine Inderin in Kalkutta. Tolle Liebschaften, gebrochene Herzen, daneben die Einsamkeit auf nächtlichem Meer. Es waren so viele, dass er stets ablehnte, sich auch nur einen der Namen auf Brust oder Arm tätowieren zu lassen, wie es viele Seeleute tun. Dafür trug er Namen und Anschrift der Mädchen in ein Taschenbuch ein, von vielen bewahrte er Fotografien, Haarlocken, ein intimes Kleidungsstück, ein kristallklares Lachen oder das ergreifende Bild einer Abschiedsträne. Aber selbst das besaß er jetzt nicht mehr, denn als er ›sie‹ an Bord der ›Benedikt‹ kennen- und lieben lernte, brachte er ihr sein Adressbüchlein, gleichsam eine ganze Weltkarte, und die greifbaren Erinnerungen an alle anderen zum Opfer.
›Sie‹ hieß Dorothy, war brünett und schlank, mutwillige Locken fielen ihr ins Gesicht, sie hatte lange Beine, einen rastlosen Mund, und in den Augen flackerte es unstet. Sie war launisch, bald sanft und scheu wie ein Kind, bald herb und herrisch, wenn sie sich von allen Seiten bedroht fühlte. Sie reiste mit ihrem Mann, einem farblosen Menschen, der irgendwo große Fabriken besaß, nur an Zahlen und Geschäfte dachte und kein Auge hatte für die Schönheit seiner Frau und die Ängste, die in ihren Augen hausten. Das Ehepaar befand sich auf einer Weltreise, er um auszuspannen, sie um ihr Schicksal zu finden – wie sie später gestand. Abends stand sie über die Reling gebeugt, den Blick im ziehenden Wasser verloren.
Wie hatte die Sache begonnen? Er wusste es selbst nicht mehr. Er war Kapitän, und als solcher sprach er natürlich mit den Passagieren, dabei wurde er auf sie aufmerksam, bewunderte ihre Schönheit und begehrte sie im Stillen. Aber der Altersunterschied war groß, sie war kaum fünfundzwanzig Jahre alt. Immerhin plauderte man eifrig. Er erzählte ihr von der See, von Stürmen und Windstillen, von seinem verschwiegenen Umgang mit den Sternen; wenn er spät in der Nacht von der Brücke herabstieg, fand er sie allein, an der Reling stehend, dann kamen sie ins Gespräch, und ihre Augen blieben auf ihm haften, als wollte sie sein Geheimnis erforschen. Eines Nachts, ohne zu wissen, wie es geschah, lag sie
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