Zwei Geschichten von der See
er hatte mit Vorliebe Schule geschwänzt. Er bedauerte, seine wertvolle Zeit verschwendet, sein Leben mit Nichtigkeiten vergeudet zu haben, statt mit Leib und Seele Geographie zu pauken, eine Wissenschaft, deren Nützlichkeit ihm jetzt bewusst wurde.
Wo mag Marcos Vaz de Toledo jetzt stecken?, dachte Chico, in der Hoffnung, dass sein früherer Amtskollege, den er seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, jetzt plötzlich, wie durch ein Wunder, auf dem Bahnhof von Periperi aus dem Zug steige.
Marcos Vaz de Toledo, ein aufgeblasener Südbrasilianer, war ein Meister in Geographie. Sein Gehirn schien eine Weltkarte zu sein; er kannte alle Weltstädte und Hauptstädte auswendig, alle Golfe und Inseln, Seen und Lagunen, Berge und Vulkane, wasserreiche Flüsse und bescheidene Wasserläufe, Meeresströmungen sowie Flusshäfen und Seehäfen; diese hatte er zu Dutzenden parat: europäische und amerikanische, afrikanische, asiatische und ozeanische. Er war ein Wundertier, dieser Marcos Vaz de Toledo, aber ermüdend, ein Maniker seiner Kenntnisse, der seine Umwelt förmlich zwang, seine Gesellschaft zu meiden. Man brauchte ihm nur das geringste Stichwort zu geben, und schon begann er, Besitzer einer langen Zigarettenspitze und eines verblüffenden Gedächtnisses, die schwierigsten Städtenamen von Hamburg bis nach Shanghai, von New York bis Buenos Aires aufzusagen. Selbst Chico Pacheco – ein Freund des Sprechens und Feind des Zuhörens – hatte ihn »Schlickrutscher« getauft und meinte damit jene Sorte Frachter, die an jedem noch so erbärmlichen Hafen anlegten.
Chico Pacheco erkannte zu spät den Irrtum seiner Unterschätzung geographischer Kenntnisse. Er hatte Marcos Vaz de Toledo stets für einen erzlangweiligen, ledernen Quälgeist gehalten und war immer um eine Straßenecke gebogen, sobald er seiner ansichtig wurde. Was gäbe er nicht darum, ihn jetzt in Periperi zu haben, mit seiner geistigen Meereskarte, seinen Nebenflüssen und Meridianen und seinen Hunderten kostbarer Flüsse … Von der geisttötenden Liste von Ankerplätzen hatte er lediglich die bekanntesten naheliegendsten Namen behalten, die für jeden, der einen Hochstapler überführen wollte, völlig wertlos waren. Er war nämlich sicher, dass es sich um einen Hochstapler handle, der die Gutgläubigkeit der zitterigen alten Leutchen von Periperi missbrauchte, jener schwachsinnigen Einfaltspinsel, die auf jeden Scharlatan hereinfielen und die haarsträubendsten Märchen schluckten. Er selbst hatte ihnen wiederholt die dicksten Bären aufgebunden, und die armen Seelen hatten nicht den leisesten Argwohn gehegt.
Es gab für einen Lügenbeutel keinen günstigeren Markt auf der Welt als Periperi, um dort seine Ware gegen die klingende Münze der Wertschätzung und Hochachtung einzutauschen. Ein Beweis dafür war er selbst, Chico Pacheco: Periperi schätzte ihn wegen seiner erfundenen Geschichten über Amtsrichter und Staatsanwälte, wegen seiner übertriebenen Schilderung von Rekursen und Rechtsfinten höher als wegen der von ihm erlittenen Ungerechtigkeit. Freilich waren seine Lügen oberflächlich und begrenzt, da sein Aktionsradius nicht über die Stadt Bahia, über bekannte Personen und einen eine knappe halbe Stunde Bahnfahrt entfernten Schauplatz hinausging.
Wie konnte er sich daher mit einem hemmungslosen Aufschneider messen, einem Großmaul, an Deck eines Schiffes, inmitten von fernen Meeren und Ozeanen, der es nur mit Sturmböen, Schiffbruch und Haien zu tun hatte, der, mit allen Wassern gewaschen und von allen Winden durchweht, bis unter die Haarwurzeln gespickt war mit Geschichten von Weibern, natürlich von lauter mannstollen, geilen Metzen?
Chico Pacheco drückte seine Schweinsäuglein zu: Nie war ihm eine ähnliche Schamlosigkeit begegnet. Nicht einmal Romeu das Dores, dessen Beruf es war, (gegen Vorauszahlung) vor Gericht Meineide zu leisten, ein alter verkommener Trunkenbold, ging in seinem Zynismus so weit. Aber dieser Kommandant da – denkste, Kommandant! – besaß nicht den geringsten Sinn für Humor, er legte einfach los und erzählte, würzte sein Garn mit wohlklingenden verzwickten Namen von Häfen und Landstrichen, mit nautischen Fachausdrücken und verkaufte seine Ente zu Höchstpreisen. Und sie, jene halblebigen Hornochsen von Periperi, jene kindischen Schafsköpfe, besabbelten sich vor Begeisterung. Es fehlte nur, dass sie dem Herrn Kommandanten – glaubste, Kommandanten! – in den Hintern krochen, die
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