Zwei Geschichten von der See
auszubilden.
Eilends verjagte er das Bild des Großvaters, an den er nur Erinnerungen bewahrte, die das Erinnern nicht lohnten. Stattdessen ließ er der Einbildungskraft freien Lauf, minutenlang schwebte er in dem Vergnügen, die begehrten Titel vor seinem Namen zu sehen, im siebten Himmel.
»Doktor Vasco Moscoso de Aragão, Rechtsanwalt!« Er sah sich auf der Tribüne der Geschworenen, in Toga und Hut, den Zeigefinger bei einem drohenden Seitenhieb auf den Ankläger gereckt, oder während seines Plädoyers, mit bebender Stimme die Geschichte des Angeklagten erzählend, der, ein Opfer und kein Verbrecher, seinem Schicksal machtlos gegenübergestanden habe. Ein guter arbeitsamer Mensch, voller Pflichtgefühl, ein zärtlich liebender Familienvater, ergebener Ehemann, ganz verrückt auf seine Frau, und die Leichtfertige setzte ihm ein Horn nach dem anderen auf … Halt, der Ausdruck war der Jury unwürdig … Und die Leichtfertige, ohne Rücksicht auf die Liebe des Gatten, die Unschuld der Kinder, den Anstand des häuslichen Herdes, auf den Treueschwur vor dem Priester, beschmutzte den ehrbaren Namen des Ehemanns im verräterischen Bett … So, so musste die Sache klingen … Er war begeistert von der eigenen Ausdrucksweise, er war tief ergriffen, sein Name, ebenso berühmt wie der der meisten Anwälte des Staates, wurde in den Unterhaltungen erwähnt und über den grünen Klee gelobt: »Welch ein Talent! Welche Beredsamkeit! Der rührt selbst ein Herz aus Stein! Der muss den hartnäckigsten Geschworenen erweichen!«
Nachdem der Mörder freigesprochen war, sah er sich im Operationssaal, in Hemdsärmeln, mit schwarzen Hosenträgern, Gummihandschuhe an den Händen, eine Stoffmaske vor dem Gesicht. Er war Senhor Doktor Vasco Moscoso de Aragão, der an Hospitälern in Paris und Wien praktiziert hatte, Chirurg – eine andere Spezialität kam für ihn nicht in Frage –, weltberühmt, ein Mann mit starken, aber zartfühlenden Händen, der vor dem aufmerksam-ängstlichen Blick der Angehörigen, des Dr. Jerônimo, vor Politikern, Studenten und Krankenschwestern den Bauch des Herrn Gouverneur aufschnitt. Die plötzliche Erkrankung, das öffentliche Aufsehen, der drohende Tod, wenn die Operation nicht unverzüglich versucht werden würde! Aber eine derartige Operation – Vasco wusste nicht genau, was er operierte, welches Organ, welche Eingeweide in Mitleidenschaft gezogen waren, welchen Teil des statthalterlichen Bauches er öffnen und zunähen würde, aber das waren zweitrangige Fragen; eine derartige Operation war in Bahia nie gewagt worden, er nahm den Ärzten, die vor der ungeheuren Verantwortung zurückzuckten, gelassen die Last von den Schultern. So hatte der berühmte Universitätsprofessor abgelehnt, den Eingriff vorzunehmen. Dabei stand das Leben des Gouverneurs auf dem Spiel, die Staatsgeschäfte hingen in der Luft, es gärte in der Politik, die Opposition rieb sich bereits frohlockend die Hände. Dann Jerônimos dramatischer Anruf, der sich auf Vascos Freundschaft, auf seine Kennerschaft berief. Die knisternde Spannung im Operationssaal, ein Lächeln auf den Lippen des Arztes, seine Kapazität, seine Ruhe, seine Kaltblütigkeit und seine jahrelange Erfahrung. Und schon extrahierte er aus dem illustren Bauch einen … was denn nur? Einen riesigen Stein – er hatte einmal etwas von Nierensteinen gehört, die tödlich und unheilbar seien. Die Studenten konnten sich nicht länger halten, sie brachen in wildes Händeklatschen, in Hochrufe aus, die Altmeister der Fakultät umringten ihn mit Glückwünschen.
Ein Mensch dem Gefängnis entrissen; das Leben des Gouverneurs dem Tode abgerungen – nun wechselte er auf das Gebiet der Ingenieurkunst über: Herr Doktor Vasco Moscoso de Aragão, Zivilingenieur mit Spezialstudium und -praxis in Deutschland, durchstieß den ungastlichen Sertão, den Buschwald, mit Eisenbahnschienen und führte den Fortschritt tief ins Innere des Landes hinein. Unter der sengenden Sonne, mitten im branddürren Busch, an der Spitze der Arbeitsgruppe, die Denkerstirn schweißperlend, Hindernisse, Mutlosigkeit und Erschöpfung bezwingend. Und dann jener Berg, zwar etwas weit hergeholt in der topfebenen, ausgedörrten Landschaft, der Fortschritt und Schienenstrang den Weg versperrte. O der Tunnel, unsterbliches Werk, einer der längsten der Welt, erwähnt in den geographischen Leitfäden! Dann der Tag der Einweihung. Der Lokomotivführer trat ihm ehrerbietig seinen Platz ab: Dem großen
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