Zwei Seiten
sagen, schien falsch. Ich konnte es nicht. »Bitte verzeih mir, dass ich unsere Freundschaft aufgeben muss, aber ich kann diese Situation nicht länger ertragen.«
Ich wollte aufstehen und gehen, doch Julia hielt mich zurück. Wortlos starrte ich sie an.
»Als ich mir eingestand, lesbisch zu sein, wollte ich sterben«, sagte Julia mit leiser Stimme. »Es klingt vielleicht drastisch, aber es ist die Wahrheit. Ich war ziemlich jung und dachte, ich sei weit und breit die Einzige. Die ganze Zeit hindurch fühlte ich mich allein und hilflos und dachte, niemand könnte mich verstehen.«
Wollte ich das wirklich hören? Warum erzählte sie mir das jetzt überhaupt?
»Als ich mich in Victoria verliebte, wusste ich schon, dass ich auf Frauen stand. Vom ersten Tag an fühlte ich mich stark zu ihr hingezogen. Wir waren füreinander die erste Freundin. Dementsprechend gingen wir die Sache langsam an. Und ich meine … total langsam.« Julia lachte kurz und betrachtete mich für einen langen Augenblick. »Ich war schon neunzehn und trotzdem war ich noch nicht bereit, aufs Ganze zu gehen, wenn du weißt, was ich meine.«
Ich nickte.
»Obwohl ich es eigentlich besser wissen musste, dachte ich immer, es sei falsch, was ich fühlte, ganz zu schweigen davon, diesen Gefühlen nachzugeben.« Julia lächelte. »Es war Oliver, der mir sehr half. Er sagte mir, Liebe könne doch nicht falsch sein.« Julia rutschte nervös hin und her. Sie schaute zwischen unseren Händen, die einander hielten, und meinen Augen hin und her. »Scarlett, ich liebe dich. Ich bin schon so lange in dich verliebt. Jeder Tag mit dir ist ein Geschenk.«
Was? Meine Kehle schien sich zuzuschnüren. Sie fühlte dasselbe? Mein Kopf war vollkommen leer.
»Ich könnte mit dir ein ganzes Leben zusammen sein, ohne dich jemals auch nur zu küssen. Wenn es bloß bedeuten würde, dass du bei mir bleibst.« Julia schüttelte langsam den Kopf. »Wenn du wirklich dasselbe für mich fühlst, dann tu dir das nicht an. Tu uns das nicht an. Geh nicht. Bleib bei mir.«
Ich spürte, wie mir Tränen die Wangen runterliefen. Niemals zuvor hatte ich mich so verloren gefühlt. Zögerlich beugte ich mich vor und lehnte meinen Kopf auf Julias Schulter.
Sie schlang die Arme um mich und hielt mich fest.
Ich fühlte mich so sicher, so beschützt vor der Welt und … vor mir selbst.
Irgendwann ließ sie mich los und sah mich mit einem Blick an, der am besten mit dem Wort liebevoll beschrieben werden konnte.
Das gab mir den Mut zu sprechen. »Julia, glaubst du, dass ich … dass ich … homosexuell bin? Glaubst du, ich bin eine … Lesbe?«
Erneut nahm Julia meine Hand und schaute mir tief in die Augen. »Das ist eine Frage, die niemand außer dir selbst beantworten kann.«
»Ich weiß es nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Alles, was noch vor einer Weile Sinn gemacht hat, erscheint jetzt vollkommen sinnlos. Und alles, was ich geglaubt habe, über mich zu wissen, scheint plötzlich falsch.«
»Und das alles bloß, weil du Gefühle für mich hast?«
Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Wie meinte sie das?
»Stell dir mal für einen Moment vor, ich sei ein Mann.«
Sie als Mann? Kurze Haare, groß, kräftige Schultern, volle Brü… nein, so ähnlich sie und Oliver sich auch waren, Julia konnte niemals ein Mann sein. Aber worauf wollte sie hinaus? »Okay«, sagte ich.
»Ich bin ein Mann und du hast dich in mich verliebt.«
Ich nickte.
»Warum würde die Tatsache, dass du dich in mich verliebt hast, ändern, wer du bist?«
Ich dachte über die Frage nach, und es gab darauf nur eine Antwort. »Aber du bist kein Mann.«
Julia ließ den Atem laut entweichen. »Es spielt keine Rolle, weißt du? All dieses Gefasel über die sexuelle Orientierung. Warum glaubst du, auf einmal ein anderer Mensch zu sein, bloß weil du für einen anderen Menschen etwas empfindest?«
Irgendwie machten diese Worte Sinn. Aber war es wirklich so simpel?
»Du bist, wer du bist«, sagte Julia. »Du bist, wer du schon immer warst: ein lieber, sensibler, intelligenter und humorvoller Mensch. Du hast gerade festgestellt, dass du dich in eine Frau verliebt hast. Das ist etwas Neues und vermutlich im ersten Moment Erschreckendes für dich.«
Was für eine Untertreibung.
»Aber es ist nur eines von vielen Dingen, die dich ausmachen.«
»Also denkst du, ich bin lesbisch?«
Julia lehnte sich etwas zurück und sah mich nachdenklich an. »Was denkst du?«
»Ich … ich … vielleicht.«
»Was würde denn
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