Zwei Sommer
Schritte voneinander entfernt und ich starre nervös in den Sand, weil ich nicht weiß, was ich für ein Gesicht machen soll, wenn sich unsere Blicke treffen. Wie sieht man jemanden an, den man nicht kennt, den man aber seit Tagen belauscht? Mann, Marie, jetzt guck ihn doch wenigstens an! Was soll denn schon passieren? Er wird dich doch nicht beißen! Guck! Ihn! An! Zack. Das war’s. Er ist an mir vorbeigelaufen. So ein blöder Mist. Wenn er es nicht sowieso schon tut, dann hält er mich spätestens jetzt für die totale Autistin. Willkommen im Leben von Marie, dem Strandkauz. Marie, der Miesmuschel. Marie, de m …
»Hey!«
Was war das?
»Hey, warte doch mal!«
Ich drehe mich um und sehe, dass der Gitarrenjunge auf mich zukommt.
Mein Herz macht einen Satz. Ich schaue ihn an und warte, bis er bei mir ist.
»Hi«, sagt er.
»Hi«, sage ich.
»Sitzt du öfter da oben?«, fragt er und deutet mit dem Kopf in Richtung Titanic.
»J a … ä h … nein, also ich meine, zurzeit schon.«
Er lächelt und fängt an, in der Tasche seines Pullovers zu wühlen. Er findet mich sonderbar, so viel steht fest. Er holt eine Packung Zigarettenpapier hervor, zieht ein Blättchen heraus und klemmt es sich zwischen die Lippen. »Scheißwetter, was?«, nuschelt er und pflückt ein Häufchen Tabak aus einer silbernen Dose.
»Ich find’s gut. Nicht so viele Leute unterwegs und so.« Mann, bin ich cool. Jetzt oder nie, Marie. »Ich hab dich spielen hören.« Na also, geht doch.
Er sieht von seiner halb fertigen Zigarette auf und schaut mich an. Blau. Nein, blaugrün. Seine Augen sind blaugrün. So etwas Ähnliches wie ein Lächeln huscht ihm über das Gesicht. »Und?«
»Klingt gut.«
Ich glaube, dass er das nicht zum ersten Mal hört. Und wenn doch, dann weiß er es gut zu verbergen.
»Du bist nicht von hier, oder?« Er zündet sich seine Zigarette an.
»Nee, wieso?«
»Bloß so.«
»Und du?«
»Wir zelten hier.«
»Wir?«
»Meine Band und noch ein paar Leute. Ach übrigens, ich bin Janos.« Er streckt mir seine freie Hand entgegen.
Ich gebe ihm meine. »Marie.« Der Strandkauz. Die Miesmuschel. Die Schriftstellerin. Das Mädchen mit den bunten Augen. Stopp mal! Das hat Oliver immer zu mir gesagt! Weil er der festen Überzeugung war, dass meine Augen je nach Stimmung die Farbe wechseln. Manchmal seien sie blau statt grün (wenn ich gute Laune habe) und manchmal grau (wenn ich traurig bin oder wütend oder müde oder meine Tage habe).
Wo kommt der denn jetzt her? Muss ich jetzt jedes Mal an Oliver denken, wenn ich mich mit einem Jungen unterhalte? Oh bitte nicht! Ich finde es gerade so schön und will es auf gar keinen Fall versauen und schon gar nicht will ich jetzt an Oliver denken! Ich kann ja noch nicht einmal glauben, dass mir das hier gerade passiert. Dass ich hier mit dem Gitarrenjungen stehe, meine ich. »Du hast ’ne Band, ist ja cool!«
»Ja. Machen grad Ferien von der Großstadt.« Er grinst und raucht.
»Wieso, wo wohnst du denn?«
»Ach, eigentlich überall und nirgends. Wir sind ziemlich viel mit der Band unterwegs. Aber die meiste Zeit bin ich in Berlin.«
Berlin. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie flößt es mir immer Respekt ein, wenn mir jemand sagt, er komme aus Berlin. Wenn ich an Berlin denke, denke ich an U-Bahn-Rolltreppen und grüne Haare und Filz-Workshops und besetzte Häuser und Karottenkuchen mit Agavensirup aus ökologischem Anbau. Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich eigentlich gar nichts von Berlin außer dem, was Pauline mir erzählt hat. Ich habe es bis heute nicht auf die Reihe gekriegt, sie zu besuchen und mir ein eigenes Bild zu machen. Womöglich habe ich ja Angst vor einem Kulturschock. Oder vor den vielen Möglichkeiten, die ich vielleicht habe, und die zu nutzen ein einziges Leben gar nicht ausreicht.
»Ich war noch nie in Berlin«, gebe ich zu.
»Macht nichts.«
»Wieso?«
»Berlin ist ’ne Schlampe.«
»Schlampe?« Ich bin verwirrt.
»Sie küsst jeden und tritt jeden in den Arsch.« Janos nimmt einen Zug.
Mal ganz davon abgesehen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich weiß, was Janos meint, finde ich es lustig, dass er davon ausgeht, dass Berlin ein Mädchen ist.
»Also wenn Berlin ’ne Schlampe ist, dann ist Rethwisch ’ne Oma«, versuche ich, seinen Gedanken fortzusetzen.
»Könnte stimmen.«
»Rethwisch ist, wie Erbsensuppe riecht.« Ich gerate in Fahrt und bin kurz erschrocken, weil ich solche Sachen nie sage, außer Tante Doro ist in der Nähe. Sie
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