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Zwei Sommer

Zwei Sommer

Titel: Zwei Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Keil
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nicht weit von dem Tonfall entfernt, den Lenny anschlägt, wenn er mal muss oder müde ist oder einfach nur ein Achtjähriger, dem die Zeit nicht schnell genug vergeht.
    »Nicht mehr weit«, erwidert Janos. Eine mir völlig vertraute Antwort in einem mir völlig unvertrauten Zusammenhang. Ich frage mich, ob Lilli auf ihn steht.
    Ich fand es total blöd, wie selbstverständlich sie den Beifahrersitz neben Janos in Beschlag genommen hat. Viel blöder fand ich allerdings den Blick, den sie mir zugeworfen hat, als ich auf dem Zeltplatz auftauchte.
    Frauen können mit Blicken töten. Und es soll mir bitte keiner erzählen, das sei meine verschrobene Wahrnehmung von Menschen. Ich weiß doch selber, wie ich gucken kann, wenn ich will.
    Wenn Blicke töten könnten, hätte Isa eigentlich an jenem Morgen in der Schule mausetot vom Stuhl fallen müssen.
    Ist sie aber nicht.
    Wie zu Beginn jeder Stunde beschloss unser Geschichtslehrer, Herr Zeisig, uns zu foltern. Ich habe ja den Verdacht, er bedauert bis heute insgeheim die Abschaffung der Guillotine. Seine Leidenschaft gilt nämlich der Französischen Revolution und den Anekdoten, die es über sie zu erzählen gibt. Wir haben nichts gegen seine Anekdoten, solange sie nichts mit uns zu tun haben. Aber wenn man innerhalb eines Schuljahres mindestens fünfmal erfährt, dass Ludwig dem Sechzehnten durch die Guillotine der Kopf erst nach mehrmaligen Durchgängen vollständig abgetrennt werden konnte – angeblich aufgrund seines dicken Nackens – dann sollte man anfangen, sich Gedanken zu machen, oder?
    Nachdem Herr Zeisig still und grausam und für die Dauer einer gefühlten Ewigkeit die Namensliste mit dem Zeigefinger auf- und abgefahren war, um einen seiner Schüler per mündlicher Leistungskontrolle zu köpfen, fiel mein Name. Und das Beil. »Marie.« Noch nie klang mein Name so scheiße in meinen Ohren.
    Das Leben von Martin Luther. Na hervorragend. Was interessiert mich Martin Luther? Ich hätte Herrn Zeisig mitteilen können, dass ich seit gestern vom Glauben abgekommen und aus diesem Grund der völlig falsche Ansprechpartner bin. Oder dass Religion mir vollkommen schnuppe ist, weil sie mein Herz vor dem Chaos auch nicht retten wird, in dem ich mich befinde, ganz gleich wie oft ich an Weihnachten mit meinen Eltern in die Kirche renne und ein Vaterunser vor mich hin nuschle. Und dass es mir so was von wurst ist, dass Martin Luther die Bibel vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt hat. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass sich »Verarsche« in allen Sprachen gleich anfühlt.
    Vielleicht hätte meine Wut gereicht, Herrn Zeisig all diese Dinge zu sagen. Aber mein Mut verließ mich und ließ mich stattdessen an meinen Schulabschluss denken, den ich meinen Eltern schulde und wohl auch mir selbst, weil ich schließlich seit sechs Jahren dieses Irrenhaus betrete und darauf verzichte auszuschlafen.
    Ich gab mir Mühe. Ich stand vor meinen Mitschülern, mit dem Rücken zur Tafel, und beschwor mein Gedächtnis, sich an etwas Bedeutsames zu erinnern. Ich sah voller Scham auf den kackgrün gesprenkelten Linoleumfußboden und begann Halbwahrheiten über Martin Luther zu erzählen. Ich fantasierte, als ginge es um mein Leben. Ich hob den Blick und ließ ihn Hilfe suchend durch die Reihen wandern. Aber alle starrten bloß auf ihre Bank und waren froh, nicht ich zu sein. Ich wusste in diesem Augenblick, dass es ganz natürlich war, dass Luther mir scheißegal ist. Weil er der ganzen Klasse 10a scheißegal war.
    Ich sah sogar Isabella an oder vielmehr ihre blonden Locken, hinter denen sie versuchte, sich unsichtbar zu machen. Doch anstatt mir zu helfen, kritzelte sie lieber in ihrem Schreibblock herum. I+O=LOVE oder so was. Zum Kotzen war das. Sogar jetzt ließ sie mich allein.
    Als wir noch beste Freundinnen waren, hat sie mir die Umrisse einer russischen Halbinsel auf einen Zettel gemalt. Kamtschatka.
    Ich stand in Geografie wie ein Außerirdischer vor der Weltkarte und sollte auf Zuruf meiner Mitschüler zeigen, wo welcher Fluss liegt, welches Gebirge, welche Insel.
    Unser Geo-Lehrer ist ziemlich verpeilt und merkt nie, dass wir uns vorher Tipps geben.
    Oder wir sind verpeilt genug, nicht zu merken, dass unser Geo-Lehrer ein guter Mensch ist und ahnt, dass man mit sechzehn nicht zu wissen braucht, wo Kamtschatka liegt.
    Weil man nur wissen muss, wo das Herz liegt. Und ob es noch schlägt.
    Ich setzte Martin Luther ein grausames Ende. Tod durch Guillotine. Das stimmt zwar nicht,

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