Zwei wilde kleine Hexen
Besen tiefer sinken, bis er nur noch einen halben Meter über der Erde schwebte.
Hinter Lillis Fenster war es stockdunkel. Im Zimmer darüber brannte noch Licht. Leise Musik drang in die Nacht hinaus. Als Elfriede gegen Lillis Fenster klopfte, rührte sich zuerst nichts. Aber dann sprang Zorro plötzlich laut bellend gegen die Scheibe.
»Oh, verflucht und zugehext!«, schimpfte die Hexe. »Der Dummkopf wird das ganze Haus aufwecken!«
Lillis erschrockenes Gesicht tauchte neben Zorros Riesenschnauze auf. Rosanna beugte sich hinter Elfriedes Rücken vor und winkte ihr zu. Da zerrte Lilli den Hund vom Fensterbrett und stieß das Fenster auf.
»Wo kommt ihr denn her?«, fragte sie völlig verdattert.
Zorro hatte seine Vorderpfoten schon wieder auf dem Fensterbrett und hechelte Elfriede seinen stinkigen Atem ins Gesicht.
»Schierling und Schneckenschleim!«, schimpfte die Hexe. »Was gibst du diesem Hund denn zu fressen? Der Mundgeruch haut ja die stärkste Hexe vom Besen!« Ungeduldig zeigte sie hinter sich. »Los, rauf da, bevor deine ganze Familie im Zimmer steht. Wäre bei dem Spektakel wirklich kein Wunder!«
»Da rauf?« Ungläubig zeigte Lilli auf den Besen.
»Ja, was denn sonst? Willst du schon wieder laufen?«
»Du meinst, wir fliegen?«, fragte Lilli. »Ich komm sofort!« Sie verschwand und war wie der Blitz zurück, in Anorak und Schuhen. »Darf ich vorne sitzen?«
»Tut mir leid. Nachwuchshexen sitzen hinten«, sagte Elfriede.
»Na gut.« Geschickt schwang Lilli sich vom Fensterbrett auf den Besenstiel. Zorro reckte sich winselnd aus dem Fenster.
»Tut mir leid, Dicker«, sagte die Hexe. »Aber du kannst nicht auch noch mit. Los, zurück ins Zimmer, leg dich schlafen!«
Zu Rosannas und Lillis Erstaunen trollte Zorro sich wirklich.
»Na bitte!«, sagte die Hexe zufrieden. »Mucksmäuschenstill jetzt, wenn ich bitten darf. Da oben ist noch jemand wach.«
»Ach, das ist mein Vater«, sagte Lilli. »Wenn der Musik hört, kann das Haus abbrennen, und er merkt nichts.«
Sie legte die Arme um Rosannas Hüften und rutschte aufgeregt auf dem Besenstiel herum. »Wohin geht’s denn eigentlich?«
»Wir dürfen bei ihrem Wetterzauber zusehen«, sagte Rosanna.
»Wunderbar!«, rief Lilli.
»Wenn du beim Fliegen so zappelst«, sagte Elfriede ungeduldig, »fallen wir vom Himmel wie reife Pflaumen. Klar?«
»Klar, klar!«
Elfriede murmelte irgendwas von komischem Hexennachwuchs. Dann stieß sie sich von der Hausmauer ab und ließ den Besen steil in den Himmel steigen.
Lilli quietschte vor Vergnügen. So laut, dass Rosanna sie am liebsten vom Besen gekippt hätte.
»Ist das nicht wunderbar?«, rief sie immerzu. »Ist das nicht absolut einmalig unglaublich riesentoll?«
»Ja, ja«, knurrte Rosanna.
»Guck doch mal!«, schrie Lilli ihr ins Ohr. »Guck mal, da unten. Wahnsinn!«
Rosanna guckte nicht nach unten. Sie presste ihr Gesicht lieber ganz dicht an Elfriedes Kleid. Das beruhigte ihren Magen ein bisschen.
Elfriede aber lachte. »Guck an, unsre kleine Flughexe. Keine gute Krötenbeschimpferin, aber erstklassig beim Besenreiten! Vorsicht, es geht wieder abwärts.«
Unter ihnen lag das verlassene Haus. Elfriede lenkte den Besen einmal um den Schornstein rum, aber dann flog sie weiter über die alten Obstbäume und dunklen Gärten, bis die Straßen nicht mehr so hell erleuchtet waren.
»Wo willst du denn hin?«, rief Rosanna.
»Jeder Zauber braucht seinen Platz«, rief die Hexe zurück. »Und ich glaube, für unseren kleinen Wetterzauber hab ich genau den richtigen gefunden. Da vorne ist es schon!«
Lilli und Rosanna kannten sich hier aus. Elfriede steuerte den Hügel an, auf dem sie im Winter rodelten: der einzige Hügel weit und breit in diesem flachen Land. Das Gras auf seinem Buckel wuchs nur noch spärlich, zu viele Kinderfüße hatten es zertreten, zu viele Schlittenkufen ihre Furchen hineingezogen. Am Rand der Kuppe, die Wurzeln in den Hang gekrallt, stand eine große Linde.
Elfriede landete unter ihren Zweigen.
»Oh, schade!«, maulte Lilli. »Können wir nicht noch ein paar Runden fliegen?«
Erleichtert fühlte Rosanna wieder festen Boden unter den Füßen. Aber die dunkle Stille ringsum war ihr auch ein bisschen unheimlich.
»Elfriede?«, fragte sie. »Müssen Hexen fliegen?«
Kichernd schüttelte Elfriede den Kopf. »Hexen müssen gar nichts. Tu, was du willst, und schade niemandem. Das ist ein altes Hexenmotto. Wenn du das Fliegen nicht magst«, sie zuckte die Schultern, »dann
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