Zweiherz
bemerkte Will. »Deshalb konnte er mich nicht leiden.«
»Meine Mutter hat meinen Vater sehr geliebt, sonst hätte sie ihn nicht geheiratet. Aber sie kam nicht damit zurecht, dass er sich so wenig für das interessierte, was außerhalb seiner Ranch im Reservat vor sich ging. So jedenfalls hat es mir dein Großvater erzählt.«
»Kannst du das verstehen?«
»Ja. Ich bin froh, dass du bist, wer du bist.«
»Ich bin kein guter Navajo«, sagte Will zerknirscht.
»Und wieso nicht?«
»Weil ich Angst vor Klapperschlangen habe.«
»Das allerdings ist unverzeihlich.« Kaye lachte und zog ihn auf die Beine. Zusammen stiegen sie ins Tal zurück. Als sie den Slot-Canyon passiert hatten, fing sie auf einmal an zu rennen.
»Du kriegst mich nicht«, rief sie und lief ihm lachend davon.
Will rannte ihr nach.
Sie war schnell, das war sie damals schon gewesen. Doch er hatte sie stets überholt. Diesmal sah es so aus, als würde sie es schaffen, ihn abzuhängen. Er setzte zum Sprint an, hatte sie beinahe eingeholt, da fing sie plötzlich an zu kichern und ließ sich ins Gras fallen. »Erster«, rief sie, völlig außer Atem.
Er rollte sich keuchend neben sie. »Ich hätte dich schon noch gekriegt.«
»Ich weiß. Aber ich wollte einmal schneller sein als du.«
»Das bist du doch immer, du weißt es nur nicht.«
Er starrte in den wolkenlosen Himmel hinauf, wo ein junger Adler seine Kreise zog. Kaye beugte sich über Will und gab ihm einen Kuss, spürte dann aber, dass er in Gedanken ganz woanders war.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ach nichts. Ich muss nur dauernd an sie denken. Deine Mutter und mein Vater... das ist, es war...«
»Es war Liebe«, sagte Kaye. »Nur Liebe, nichts Böses.« Sie küsste ihn noch einmal und er schlang seine Arme um sie und hielt sie fest.
Im Haus war es heiß und stickig. Hier gab es keine Klimaanlage wie im Ranchhaus der Kingleys. Will hatte beide Fenster geöffnet, damit der leichte Luftzug, der aus den Bergen kam, durch den Raum strömen konnte. Erst gegen Mitternacht wurde das Atmen leichter.
Kaye hatte begonnen, seine Briefe zu lesen, die er ihr im Gefängnis geschrieben, aber niemals abgeschickt hatte. Nach dem dritten musste sie aufhören, weil sie es nicht mehr ertragen konnte. Will sah sie an und spürte, dass sie nicht darüber zu reden brauchten. Kaye hatte auch so verstanden. Was passiert wäre, wenn sie diese Briefe tatsächlich bekommen hätte, damals als sie zwölf Jahre alt war. Sein Leid hätte ihr die Träume genommen. Diese Last hatte er ihr nicht aufbürden wollen.
Ihr Herz schlug wild unter seiner Hand. Ihre Haut war am ganzen Körper warm und feucht. Nicht jetzt, aber später vielleicht würden sie darüber reden, was in seinen Briefen stand.
Kaye legte die Arme um seinen Hals und hielt ihn an sich gepresst, so fest, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Will fragte sich, ob wohl ihre Mutter seinen Vater genauso umklammert hatte. Und plötzlich hatte er das Gefühl, ihn besser verstehen zu können. John Roanhorse war freiwillig mit dem Kojoten gegangen. Der Großvater hatte ihm erzählt, dass er am Morgen nach seinem Tod Johns Fußspuren und die Spur des Kojoten nebeneinander im Canyon entdeckt hatte.
Sein Vater war mit dem Kojoten gegangen, weil er die Frau, die er liebte, nicht haben konnte. Ihn aber, Will Roanhorse, hatte Zweiherz für immer verloren.
Kojote lag müde im Schatten der Mesa und döste vor sich hin. Er hatte sich vollkommen verausgabt in dieser Nacht. Aber jetzt war er zufrieden. Er hatte einen Sieg errungen. Er hatte eine verlorene Seele in die Unterwelt zurückgeholt, hinab in ewige Dunkelheit und Kälte. Es war nicht der Erwählte, aber das tat nichts zur Sache. Einer war so gut wie der andere.
Die zwei Herzen in seiner Brust schlugen im Takt. Seine Augen brannten. Nun konnte er ausruhen.
Vermutlich hatte Thomas Totsoni schon einige Zeit gegen seinen Geländewagen gelehnt gewartet, als Kaye mit ihrem Jeep auf den Parkplatz vor dem Laden gebogen kam. Sie stieg aus, winkte ihm freudig zu, dann sah sie das finstere Gesicht ihres Onkels. »Du siehst aus wie eine Gewitterwolke«, begrüßte sie ihn. »Ist was passiert?«
Thomas Totsoni nickte und kam gleich zur Sache. »Bob Atisi ist tot.«
»Hóyéé« , entfuhr es Kaye, »das ist furchtbar. Wie konnte das passieren?«
»Gehen wir in deinen Laden, ich will es dir nicht hier auf der Straße erzählen!«
Kaye öffnete das Gitter, schloss die Ladentür auf und räumte ihrem Onkel einen
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