Zweilicht
»Cinna und ich wurden in diesem Frühling geboren, und seit ich denken kann, höre ich auf dich und Ban und fürchte mich vor dem Winter. Sag mir endlich die Wahrheit! Warum soll ich hassen? Ich weiß ja nicht einmal, ob es diesen Wendigo überhaupt gibt.«
Die Älteste zögerte, aber nach einem langen Blick auf Ban nickte sie schließlich, als würde sie nach einer stummen Zwiesprache mit dem Toten resignieren. »Es gibt ihn, oh ja, es gibt ihn«, murmelte sie. »Ich bin alt, Mondmädchen, ich habe genug Winter erlebt – mehr als vierzig sind es schon. Genug, um zu wissen, wie hungrig er ist.«
Mo zog unbehaglich die Schultern hoch. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sie von unsichtbaren Augen beobachtet. Hungrigen Augen, so blau wie eine klare Nacht.
»Ihr Mondmädchen steht den Menschen näher als wir anderen«, fuhr Night fort. »Ihr seid die einzigen Wesen, die ihre Träume ergründen können. Ihr könnt sie bezaubern und sie mit Truggestalten täuschen. Ihr habt die Mondmagie und das ist eine große Macht, größer, als dir jetzt schon bewusst ist. Für euch hat Wendigo deshalb eine besondere Aufgabe. Ihr sucht für ihn, ihr bringt ihm die Träume von Leid und Grausamkeit. Und solange es noch einen lebenden Menschen gibt, wird er nicht ruhen, bis er ihn gefunden hat. Den ganzen Winter lang streift er umher, und die Mondmädchen suchen für ihn, spüren die Träume auf und finden die Lager, in denen die Menschen sich verstecken.«
»Wie der Herzschlag einer Maus unter dem Schnee, den die Eule hört«, murmelte Mo.
Night nickte. »Aber von Winter zu Winter wird es schwieriger. Die Menschen beobachten uns und sie lernen, sie finden immer neue Wege, um sich zu tarnen. Manche von ihnen haben sogar gelernt, sich in ihren Träumen nicht zu verraten und euch damit auf falsche Fährten zu locken. Aber Wendigo wird immer gefräßiger, kleiner Bernstein, deshalb musst du für ihn suchen und finden. Denn wenn du nichts findest …«
»… dann tötet er seine Diener?«
»Ein gewöhnlicher Tod wäre nicht das Schlimme.« Die Älteste senkte die Stimme und beugte sich vor. »Ein Tod nimmt dir nur das Leben. Wendigo dagegen ist das Böse, Mo. Die Kälte, der Schmerz und die Verzweiflung aller lebenden und auch aller toten Wesen, denen er begegnet. Alles zerbricht unter seinem Atem. Aber wen er zwischen seinen Zähnen zermalmt, dessen Seele leidet für immer.«
Mo drückte ihre Handballen gegen die Augen. Grellrote Flecken pochten hinter ihren Lidern. Krampfhaft suchte sie nach Cinnas Gesicht, nach dem verzehrenden Hass, doch alles, was sie fand, war der Traum des blonden Mädchens, den sie in dieser Nacht erhascht hatte.
Ein Gesicht, das sie nicht kannte. Nein, es waren zwei. Ein junger Mann mit hellem Haar, und ein zweiter, dunkler, mit feurigen Augen, auf dessen linker Wange eine helle Narbe prangte. Sie knieten im Schnee, mit Fackeln in den Händen, deren kümmerliche Flammen sich fauchend unter einem Eishauch duckten. Eis überzog ihre Lippen und ihre Lider, zog alle Farbe aus ihrer Haut, bis sie blau wurde, dann schwarz – und schließlich zerbrach wie Glas.
Mo schrie auf und sprang auf die Beine. Selbst im Sitzen war die Älteste noch so groß, dass sie ihr direkt in die Augen sehen konnte.
»Jetzt begreifst du auch, warum ich will, dass du sie hasst. Ihr Mondmädchen neigt dazu, euch für Menschen zu begeistern, ihnen nahe sein zu wollen, und diese Eigenschaft ist wichtig für Wendigos Jagd. Aber sie kann euch zum Verhängnis werden, wenn ihr versucht, ihn zu betrügen, ihn von den Lagern wegzulotsen. Und leider seid ihr dickköpfig und sprunghaft und habt ein unberechenbares Herz. Ihr lernt nur durch Erfahrung, nie durch Einsicht, das ist eure Natur. Also hatte ich gehofft, du würdest dir an diesem Jay die Finger verbrennen – und ich hatte recht. Jetzt lerne daraus, Bernstein.« Ächzend erhob sie sich und streckte sich, bis ihre Gelenke knackten. »Wer Wendigo nicht dient, der ist gegen ihn, also dienen wir ihm, Mondmädchen. Willst du den nächsten Frühling erleben – oder willst du ewig leiden? Das ist nämlich die einzige Wahl, die dir bleibt.«
Mo hob den Kopf. »Ich will leben«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
back to the roots
d as Nächste, was Jay mit dröhnendem Schädel wahrnahm, waren Wasserrauschen und das rhythmische Geräusch von Paddeln, die in Wasser tauchten. Er lag auf der Seite, sein Hinterkopf pochte, und obwohl ihm ein Stück Erinnerung fehlte, konnte er
Weitere Kostenlose Bücher