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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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allem musste er lächeln. Wenn Robin mich jetzt sehen könnte, würde er ausflippen – sein Sohn lebt seinen Traum vom wilden Leben. Rechts von ihm zog das ehemalige New Jersey dahin, links erhoben sich die Wolkenkratzer Manhattans aus dem Nebel. Meine Zukunft rechts, meine Vergangenheit links, und ich in der Mitte, ohne den blassesten Schimmer, zu welcher Seite ich wirklich gehöre.
    Das Paddeln tat gut, der Rhythmus beruhigte ihn, mit zügigen Schlägen trieb er sein Kanu vorwärts, bis die Südspitze der Stadtinsel immer näher kam. Es kostete mehr Kraft, die Strömungen zu schneiden, dort, wo der Hudson River in die Meerenge East River mündete, aber er fand sich auch schnell in diesen Rhythmus ein und umrundete mit kräftigen Schlägen die Inselspitze. Von fern kam die Brücke in Sicht. Zum ersten Mal sah er sie als das, was sie war: fast eine Ruine, mit pendelnden Stahlseilen, in der Mitte war die Fahrbahn an einigen Stellen bereits etwas abgesackt.
    Wasserpflanzen trieben neben dem Boot und verhedderten sich im Paddel, als er das Kanu zum sandigen Ufer lenkte. Zu seiner Zeit hatte es hier Docks gegeben, nun hatten angeschwemmte Erde und Sand das Ufer in einen Strand verwandelt, an den er sein Boot zog.
    Von fern hallte ein Ruf zu ihm herüber, aber er hörte nicht hin, sondern schulterte sein Gepäck und machte sich auf den Weg nach Williamsburg. Was einfach klang – und in Wirklichkeit ein schweißtreibender Geländemarsch war. Jetzt verstand er, warum sein Zeitgefühl in der Trugwelt so versagt hatte. Als er damals gedacht hatte, auf glatten Straßen zu laufen, hatte er in Wirklichkeit Stück für Stück die Wildnis langsamer und mit vielen Umwegen bewältigt. Instinktiv war er umgestürzten Bäumen ausgewichen und hatte sie als Baustellen und Absperrungen wahrgenommen.
    »Wo willst du hin?« Liberty schritt leichtfüßig neben ihm dahin, als würde sie auf der Straße spazieren.
    »Ich muss Madison finden.«
    »Dieses Mädchen mit den verrückten Augen? Das ist nicht gut, Jay. Gar nicht gut. Hat die Elfe dich rausgeworfen?«
    »So was in der Art.«
    Er blieb stehen und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Mit etwas Mühe erkannte er zwar die Reste von Brownstone-Häusern, aber das meiste hier war sumpfiges Ufergelände und dichte Vegetation. Rostige Ampelleichen hingen in manchen Straßen noch an gefährlich maroden Stahlseilen. »Wo sind wir gerade?« Sie sah sich verwundert um. »Flushing Avenue natürlich. Und der Chinese da drüben hat heute gebratene Krabben im Angebot.«
    *
    Immerhin erkannte er seine Straße noch. Sie war durch Frostschäden zerklüftet, aber nicht von Wasser unterspült. Das, was Lindas Haus gewesen war, entpuppte sich als reine Ruinenkulisse, kaum mehr als eine Wand mit einem Fenster. Der Amberbaum im Garten war keiner, ein anderer Baum hatte ihn vor vielen Jahren verdrängt. Ein Ast ragte direkt unter Jays Fenster. Jeder Hund hätte hier hochklettern können, der Stamm war geneigt und die Äste breit. Sie reichten bis zum Fensterbrett.
    Der erste Schock: Das Zimmer, das er vor wenigen Tagen verlassen hatte, war eine Höhle. Sein Lager bestand schon lange nicht mehr aus Matratzen, sondern aus einem Haufen Laub und Lumpen. Das, was er für einen Dreamcatcher gehalten hatte, war ein Zweig, der an dem Rest eines Spinnennetzes von der Decke baumelte. Und in der Decke klaffte ein Loch. Klar, als ich nach einer Begegnung mit Ivy aufgewacht bin, habe ich den Himmel gesehen .
    Sein Laptop war in Wirklichkeit ein ausgebleichtes, geknicktes Plastikschild mit der Aufschrift »Sale«. In der Ecke türmten sich vergilbte Jeans, an denen noch die Plastikbändchen der Preisschilder baumelten, ein Haufen Schuhe und Shirts, außerdem eine graue Daunenjacke. Madison und ihre Helfer mussten sie in irgendwelchen Läden gefunden haben. Großes Kino. Und ich habe mir eingebildet, aus dem Rucksack zu leben. Am meisten schockierte ihn aber der Geruch nach Hunden und Fell, die Tierhaare überall – dunkle Haare mit helleren Spitzen, auch ein paar ganz helle Haare waren darunter. Als hätte ich in einer Horde Kojoten geschlafen. Und vermutlich lag er damit genau richtig.
    Auf Zehenspitzen durchquerte er den Raum und lief die Treppe hinunter, die keine Metalleiterstiege war, sondern eine bröckelnde Ruine.
    Es war ein weiterer Schock, die Küche zu betreten. Sein Trugwelt-Film hätte den Oscar verdient. Abgenagte Knochen und Reste von Rehkadavern lagen herum, vergilbtes Plastikgeschirr stand

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