Zweilicht
und konnte den Anblick von Matt und Madison nicht vergessen. In seinem Schock brauchte er eine Weile, um zu begreifen, dass ihn jemand an der Schulter schüttelte. Es war Ivy. Aus dem Nichts war sie vor ihm aufgetaucht, mit glühenden Wangen und wachen, harten Augen, und redete auf ihn ein.
»Wir müssen los. Komm zu mir ins Boot.«
Wie in Trance schüttelte er den Kopf. »Nein.«
Er schrie es nicht und er war nicht zornig, es war ein ganz sachliches Nein, und nie war ihm etwas richtiger vorgekommen.
Beren und Ivy sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Was soll das heißen?« Diesmal war es wirklich Ivy. Den Zorn in ihren Augen hätte er überall erkannt.
»Es heißt einfach nur nein«, erwiderte er leise. »Ich muss zu Madison. Ich muss mit ihr sprechen – und vielleicht komme ich dann nach.«
Vielleicht auch nicht.
Neben ihnen glitt das nächste Boot auf das Wasser hinaus und schreckte einen Schwarm von Wasservögeln auf. Das Flattern klang wie das Echo von Schüssen. Irgendwo auf der Insel ertönte ein lang gezogenes Heulen. Hat Aidan entdeckt, dass Matt tot ist?
»Entweder du steigst ins Boot oder ich prügel dich rein!«, sagte Beren drohend. Wikingerfilm , dachte Jay. Beinahe hätte er gelacht. Die Szene, in der die Krieger sich prügeln, weil einer den Helden spielt. Dabei war er kein Held. Alles andere als das.
»Wach auf!«, sagte Ivy. »Das ist deine Welt, kein Film, in dem die Bestien zu guten Menschen werden!«
»Das hier kann nicht meine Welt sein«, erwiderte er ruhig. »In meiner Welt bleibt niemand zurück. Niemand stirbt in solchen Fallen und niemand endet so wie Columbus.«
Ivy war blass geworden, ihre Fäuste gruben sich noch tiefer in seine Jacke, sie zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Jetzt hör mir gut zu, du Träumer. Weißt du, was dich erwartet, wenn du hierbleibst? Auch wenn du sie liebst – deine Madison wird dich nicht verschonen. Sie wird dich dem Verschlinger in den Rachen werfen. Und das …« – ihr Blick huschte kurz nach links und sprang zu ihm zurück – »… lasse ich nicht zu!«
*
Mo nahm kaum wahr, wie Night zu ihr trat. Seit einer Ewigkeit saß sie wie betäubt neben der Falle, die Knie an den Körper gezogen und betrachtete traurig Bans reglose Gestalt. Neben seiner Pranke lag Jays Waffe, als wollte der riesige Bär im Tod danach greifen. Vor ihr, am Rand der Falle, waren die Spuren seines Kampfes in den Boden gegraben, und als Night Mo in die Arme nahm, roch sie angesengtes Fell. Natürlich weinte Night nicht. Mit trockenen, zornigen Augen betrachtete sie Ban und hielt Mo fest an sich gedrückt, als wollte sie sie beschützen. So saßen sie und warteten, während am Fluss ein paar Vögel hochstoben und über den Himmel segelten.
»Wie konnte das passieren?«, fragte Night nach einer Weile. »Sie sind uns entkommen. Wo war dieser verdammte Kojote, wo waren die anderen?«
»Coy hat uns im Stich gelassen«, murmelte Mo. »Und seine Brüder hat er mitgenommen. Das Dickicht ist leer – hier sind nur noch wir.«
Night fluchte und hieb vor Zorn auf die Hohlwurzel. Sie zersplitterte unter dem Schlag wie eine Eierschale.
»Ich habe dir schon immer gesagt, ihm ist nicht zu trauen. Wenn ich ihn finde, ziehe ich ihm seine verlogene Zunge aus dem Schlund und erwürge ihn damit.« Dann aber seufzte sie tief, ihre Schultern sanken herab. »Ich hoffe wenigstens, du hast deine Lektion über die Menschen gelernt. Ich hatte dich gewarnt, damals schon, als du den Jungen zum ersten Mal gesehen hast.«
Mo versteifte sich und rückte ein Stück von Night ab. »Warum ist dir so wichtig, dass ich die Menschen hasse?«
»Wendigo hasst die Menschen, also hassen wir sie auch. So einfach ist es.«
Aber Jay hat mich verteidigt, weil er dachte, die Kojoten wollten mich angreifen und nicht ihn , dachte Mo.
Er hat nicht mich verteidigt , korrigierte sie sich. Ich war ja das blonde Mädchen . Aber warum hat er mich dann trotzdem gerettet, als er längst wusste, dass ich ihn getäuscht habe?
Ruckartig hob sie den Kopf und sah Night irritiert an. »Jay hatte recht«, flüsterte sie. »Ich hasse ihn gar nicht. Ich hasse das Mädchen, ja, und die Menschen, die Cinna und Ban getötet haben. Aber nicht ihn!«
Night lachte bitter auf. »Du hast keine Wahl.«
»Warum nicht?«, begehrte Mo auf. »Warum darf ich nicht entscheiden, wen ich mag und wen nicht?«
»Begreifst du denn nicht …«
»Nein! Ich weiß nur, was Ban und du mich gelehrt habt«, rief Mo hitzig.
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