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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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sich zusammenreimen, was geschehen war. Er tastete nach seinem Kopf und fand tatsächlich eine Beule. Mühsam schlug er die Augen auf und sah, dass Manhattan sich schaukelnd von ihm entfernte. Rauchsäulen stiegen immer noch in den Himmel, ansonsten trieb die Insel von ihm weg wie ein verwunschenes Reich in einem Nebelmeer, berückend schön und gefährlich.
    »Es tut mir leid«, sagte Ivy sanft. »Freiwillig wärst du nicht mitgekommen, so gut kenne ich dich inzwischen.«
    »Und du hast mich wieder einmal reingelegt. Du erzählst mir etwas von Wendigo, damit ich abgelenkt bin und Beren mir eines überziehen kann.«
    Ivy ließ sich neben ihm auf den Planken nieder. Sie sah unendlich erschöpft aus. Jay stemmte sich in eine sitzende Position hoch. Er lag nicht in dem Kanu, sondern auf einer Art Floß. Vorne bemühten sich ein paar Leute um Columbus, verbanden seine Wunden. Und auch Mika blutete aus einer großen Bisswunde an der Schulter. Beren, Faye und einige andere Leute lenkten das Floß mit kräftigen Paddelschlägen in Richtung New Jersey. Hinten folgten die leeren Kanus wie angeleinte Hunde dem Zug der Fähre. »Sie sind uns mit dem Floß entgegengekommen«, erklärte Ivy. Und mit einem ironischen Lächeln, das ihr nicht so recht gelingen wollte, fügte sie hinzu: »Ohne Vorräte sind wir zumindest schneller auf der anderen Seite.«
    »Ja, und Dornröschens Sarkophag hätte hier ja auch nur Platz weggenommen«, erwiderte er sarkastisch. Im selben Moment wünschte er, er hätte die Klappe gehalten. Du weißt genau, sie hatten keine andere Wahl, als sie zurückzulassen .
    »Sie waren hinter dir her«, erwiderte Ivy kühl. »Nicht hinter Dornröschen. Und es mag keine schöne neue Welt sein, aber es ist unsere. Ich weiß sehr gut, dass dir das nicht schmeckt, aber mehr habe ich dir nicht zu bieten. Wir verteidigen uns und überleben – oder es geht uns wie Columbus … und so vielen anderen. Je eher du das begreifst, umso besser.« Ihre Augen glänzten und sie zwinkerte ein paar Mal zu häufig. Sie schluckte schwer und wischte sich mit einer unwirschen Bewegung über die Augen. Und mit einem Mal begriff er, dass sie sich ähnlicher waren, als er je gedacht hätte. Sie kämpft mit Zähnen und Klauen und sie wird alles für ihre Welt tun – so wie ich für meine. Und so wie Madison für ihre Welt. Eben war er noch wütend auf Ivy gewesen, aber jetzt nahm ihm eine jähe Zärtlichkeit für sie den Atem. Die Stunden in der Sonne blühten in ihm auf, die Schönheit und Weite und Ivys Nähe. Umso bitterer war die Erkenntnis, dass nicht er es war, den sie liebte. Und vielleicht bin ich genau deswegen so zornig auf sie?
    »Wen liebst du wirklich?«, fragte er.
    Sie starrte ihn empört an. »Was geht dich das an?«
    »Vertraust du mir so wenig, dass du mir nicht einmal sagen willst, ob es Beren ist?«
    »Ich vertraue nicht einmal mir selbst, Jay«, gab sie mit harter Stimme zurück. »Und ich warne dich, Jay Callahan oder wer immer du wirklich bist. Komm nicht noch einmal auf die Idee, zu deiner Liebsten zurückzukehren!«
    »Warum ist dir das so wichtig? Ohne mich habt ihr eine Sorge weniger – und ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren.«
    Jetzt wurde sie wirklich wütend – einen Moment hätte er schwören können, dass sie ihn am liebsten über den Rand des Floßes ins Wasser geschubst hätte.
    »Jetzt hör mir gut zu«, fauchte sie. »Menschen können sterben, auch der beste Trickster kann es nicht verhindern. Es passiert immer wieder, dass die Wächter unserer Magie auf die Spur kommen und die Fallen enttarnen. Das ist ein Menschentod, es ist traurig, aber auch das ist unser Leben. Aber ich verliere niemanden an Wendigo. Niemanden!«
    Mit diesen Worten sprang sie auf und ließ ihn allein. Die Kolonisten blickten zu ihm herüber, aber dann konzentrierten sie sich wieder auf die Verletzten und auf das gegenüberliegende Ufer, das immer näher glitt.
    Jay schielte zu den Kanus. Links von ihm lag Gepäck. Proviant, eine Decke, ein Messer, das Beren gehörte. Er machte kein Geräusch, als er die Dinge an sich nahm. Vorsichtig zog er ein Kanu zu sich heran, in dem noch ein Paddel lag. Mit klopfendem Herzen vergewisserte er sich, dass niemand ihn beachtete, dann band er das Boot los und ließ sich in den Nebel gleiten.
    *
    Das erste Stück ließ er sich einfach treiben, ohne zu paddeln. Die Strömung zog ihn mit sich, drehte das Boot, das den Nebel verwirbelte. Als er weit genug weg war, griff er zum Paddel. Trotz

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