Zweilicht
Blöße gegeben, und wird sich über sich selbst ärgern. Und dann wird sie wieder auf Distanz gehen.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass über dem East River die Sonne hervorbrach. Auf der anderen Seite des Flusses regnete es nicht mehr, ein fahler Sonnenstrahl schob die Wolken auseinander und versilberte die Pfützen auf den Dächern.
Es war einer der Augenblicke, in denen die Luft vibrierte, weil sich so vieles entschied.
Er griff nach dem Sicherungsgurt und öffnete ihn. Hastig nahm er ihn ab und ließ ihn an dem Karabinerseil nach unten. »Madison«, rief er leise. »Komm hoch.«
»Was?«
»Weißt du noch, was ich dir über den Himmel gesagt habe?«
»Ja. Aber den sehe ich auch von hier.«
»Aber nicht die andere Seite des Flusses. Schnell! Gleich ist die Sonne wieder weg.«
Aber sie zögerte, und er merkte, wie sie ihm zu entgleiten drohte. Wenn er sie bedrängte, würde sie zurückweichen.
»Ich will dich nicht überreden«, sagte er sanft. »Aber du verpasst wirklich was.«
Es kostete ihn Überwindung, sich von ihr abzuwenden. Er griff nach der Leitersprosse über seinem Kopf und kletterte zurück auf das Dach. Er konnte spüren, dass sie ihm mit den Blicken folgte. Aber erst als er auf der Mitte des Daches stand, sah er sich zur Leiter um.
Ich zähle bis zwanzig . Wenn sie bis dahin nicht da ist, habe ich verloren. Nervös knetete er seine Finger. Dreizehn, vierzehn …
Kurze Zeit später ruckte die Leiter leicht, als würde sie unter einem Gewicht und Bewegungen vibrieren. Eine Hand erschien an der obersten Leitersprosse, dann noch eine, mit der Rolle Klebeband, die Madison sich wie einen Armreif über das Handgelenk geschoben hatte. Geschickt zog sie sich weiter hoch. Jetzt sah Jay, dass sie den Sicherungsgurt gar nicht angelegt hatte. Mit drei großen Schritten war er bei ihr. »Gib mir die Hand!«
Er wusste nicht, was ihn mehr irritierte: dass sie seine Hand gar nicht beachtete – oder die Tatsache, dass sie ebenso verunsichert wirkte wie er. Ich kenne sie wirklich nicht , schoss es ihm durch den Kopf. Jetzt wirkt sie beinahe schüchtern. War die ganze Coolness wirklich nur Fassade?
Sie zögerte, die Hände fest um die Leiter geschlossen, einen Fuß bereits auf dem Dach. Einen irrealen Augenblick lang sah er sie schon abrutschen und fallen. Und plötzlich hatte er solche Angst um sie, dass ihm beinahe übel wurde.
»Bitte, Madison«, sagte er beschwörend. »Gib mir deine Hand!«
Es war wie in einer Filmsequenz, die sich in Zeitlupe abspielte. Er konnte jedes Detail wie in Großaufnahme sehen: die Linie ihrer Brauen, die Sonne auf ihrem Gesicht und ihre Hand, die sich endlich von der Leiter löste. Er schloss seine Rechte fest um ihre Finger und zog sie so schnell aufs Dach, dass sie beinahe in seine Arme gestolpert wäre. Die Kapuze ihrer Regenjacke rutschte ihr vom Kopf. Sofort fingen sich ein paar Regentropfen in ihrem Haar und verwandelten sich in der Sonne in winzige Glasperlen.
»Du bist ziemlich blass geworden, Firefighter«, sagte sie mit einem zaghaften Lächeln.
»Ich hatte Angst um dich. Warum hast du den Sicherheitsgurt nicht angelegt?«
»Ich brauche ihn nicht. Mir wird nicht schwindelig.« Sie sah sich auf dem Dach um – aber immer noch ließ sie seine Hand nicht los. Über der anderen Seite des Flusses trieb ein Fetzen blauen Herbsthimmels direkt über Manhattan. Die Sonne ließ die Spitze des Empire State Building erstrahlen. »Du hattest recht«, sagte Madison andächtig. »Ich hätte was verpasst. Da hinten ist der Mond!«
Jay sah sich ebenfalls um. Tatsächlich. Die helle Scheibe zeichnete sich erstaunlich deutlich am Vormittagshimmel ab.
»Ich wusste, dass man Mond und Sonne manchmal gleichzeitig am Himmel sehen kann, aber erlebt habe ich es noch nie«, fuhr Madison fort. »Es sieht … fast magisch aus, nicht wahr?«
Es klang absolut aufrichtig, ohne den Hauch von Ironie. Ihre Hand war so warm, dass sie fast fieberheiß wirkte, und ihre Finger schlossen sich noch etwas fester um seine. Und dann löste die unsichtbare Glaswand zwischen ihnen sich endgültig auf.
»Manche glauben, dass die Geisterwelt an solchen Tagen besonders nah ist«, sagte Jay. Jedenfalls glaubte mein Vater das. »Man nennt den Tagesmond auch Geistermond. Weil er den Geistern gehört. Glaubst du, da ist was Wahres dran?«
Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Ich glaube daran, dass der Mond ein von der Sonne angestrahlter Felsen ist. Alles andere ist Indianeresoterik – und du kannst
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