Zweilicht
hältst du Ausschau?«
»Nach Feathers. Unserem Hund.«
» Wie heißt er?«
»Wie Charly Feathers, der Musiker. Matt ist ein großer Fan.«
Sie kicherte. »Ich mag deinen Onkel.«
»Ja, er ist in Ordnung, auch wenn er schnell hochgeht.«
»Das scheint ja in der Familie zu liegen.«
»Ach ja?«
Sie warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu.
»Allerdings. In den letzten Tagen habe ich dich sehr genau beobachtet. Du bist nicht so harmlos ruhig, wie du dich gibst, aber du lässt es nicht raushängen. Das gefällt mir an dir. Und auch, dass du dir um den Hund Sorgen machst.«
Das war tatsächlich nicht die Madison, die sich in der Schule zurückhielt und so sehr um ihre Fassade bemüht war. Vielleicht ist es das? , dachte er. Vielleicht sind wir uns darin ähnlich.
Sie wichen einer Kehrmaschine aus und gingen auf der anderen Straßenseite an Läden vorbei, deren mit Graffiti besprühte Rollläden aus Eisen heruntergelassen waren. Hier hatte der Sturm mehr Schaden angerichtet. Fensterläden hingen schief in den Angeln, Scheiben waren zerbrochen und ein verbogener Wäscheständer hatte sich an einer Ampel verfangen. Ein Mann versuchte, ihn mit einem Besenstiel herunterzuholen.
Nicht weit von ihm stand eine Frau in einem bodenlangen, altertümlichen Kleid und sah ihm dabei interessiert zu. Jay war schon einiges an Werbeaktionen in dieser Stadt gewohnt – als Hamburger verkleidete Menschen, die für Burger King warben, laufende Kaffeetassen oder zwei Meter große Huhnmenschen, die Flyer verteilten. Aber diese wandelnde Werbung kannte er noch nicht. Die Frau war sicher schon fünfzig, hatte feine, irgendwie altmodische Gesichtszüge und schneeweißes Haar. Und sie trug eine altertümliche Tracht, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Komischerweise zierten die schlichte Tracht mindestens zwanzig Perlenketten.
Sie entdeckte Jay und rauschte erfreut auf ihn zu. Ihr Rock raschelte, und als sie näher kam, erkannte Jay, dass er ganz und gar aus Papier bestand. Zeitungen voller fetter Schlagzeilen. Vielleicht machte sie Werbung für die Daily News ? Sie starrte ihn neugierig an und sagte dann mit einem Blick auf sein Shirt feierlich: »Die Helden von New York sind die irischen Feuerwehrleute. Sie sind die Nachkommen gewalttätiger Banden, die in der Zeit des Bürgerkriegs berüchtigt waren.«
»Ich glaube, mit gewalttätigen Banden meint sie dich«, flüsterte Madison und verbiss sich ein Lachen.
»Mit dir rede ich nicht«, schnappte die Frau und wandte sich Jay so demonstrativ zu, als wollte sie Madison abdrängen.
»Du bist du doch ein Ire?« Sie betrachtete sein rotbraunes Haar. Nervös spielten ihre Finger mit den Ketten, als würde sie fürchten, das Mitglied der berüchtigten Banden würde sie ihr gleich entreißen.
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Jay. »Kein Ire. Kein Bandit. Nicht mal ein Feuerwehrmann.«
Die Miene der Frau hellte sich auf. »Ah! Ich höre, du bist auch Holländer.«
Jetzt dämmerte Jay, woher er die Tracht kannte: aus seinem Geschichtsbuch. Und zwar aus dem Kapitel für Siedlungsgeschichte. Die Kleidung erinnerte an die Tracht holländischer Frauen aus der Zeit, als New York noch Nieuw Amsterdam hieß. Nun, bis auf die Perlenketten. »Um 1740 herum wurde die Stadt von einer Währungskrise heimgesucht«, fuhr sie im Plauderton fort. »Schuld war eine Flut von minderwertigen Perlenketten. Sie waren damals die Hauptwährung.«
»Interessant«, schnappte Madison. »Und jetzt müssen wir wirklich weiter.«
Jetzt ergriff sie seine Hand und zog ihn energisch zur Seite. »Dreh dich bloß nicht nach ihr um, sonst läuft sie dir noch hinterher«, flüsterte sie ihm zu. Sie wechselten die Straßenseite und bogen ab. Die Frau schien ihnen nicht zu folgen.
»Kennst du sie?«
»Jeder hier kennt sie. Sie spinnt ein bisschen, aber sie ist harmlos. Allerdings kann sie wohl ganz schön nerven. Mich kann sie zum Glück nicht ausstehen, sie redet nie mit mir und geht mir aus dem Weg.«
Am Ende der Straße blieb Madison stehen.
»Ab hier gehe ich allein. Wir sehen uns morgen.«
»Soll ich dich wirklich nicht nach Hause begleiten? Du weißt … die irischen Banden …«
Sie schüttelte den Kopf und wurde mit einem Mal so ernst, dass auch ihm das Lächeln verging.
»Tu mir einen Gefallen. Du kannst mich gerne anrufen, aber bitte hol mich nicht von zu Hause ab.«
»Gibt es Probleme?«
Sie seufzte und zuckte mit den Schultern. »Ist schwer zu erklären. Mein Vater ist manchmal ein bisschen
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