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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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hätte er die Tür zu einer sehr dunklen Kammer aufgemacht, damit endlich Licht hineinkonnte.
    »Er vermisst dich auch«, sagte Ivy sanft.
    Und mit einem Mal wusste er, warum ihm zum Heulen zumute war. Es war eine Erinnerung. Sehnsuchtsbrücke. Er erinnerte sich daran, mit seinem Vater über diese Brücke gelaufen zu sein. Schon damals hatte Zweiherz nicht einmal genug Geld für die Bahn gehabt, aber Jay war stolz darauf gewesen, an der Seite seines Vaters den Weg zu Fuß zu bewältigen.
    Was, wenn er wirklich eine Botschaft für mich hat?
    »Okay«, sagte er heiser. »Ich höre dir zu.«
    Sie nickte und biss sich auf die Unterlippe. »Und keine Tricks, ja?«, sagte sie warnend. »Mir ist klar, du bist stärker als ich. Und du willst deine Kette wiederhaben, aber versprichst du mir, friedlich zu sein, wenn ich dir jetzt erst etwas zeige?«
    »Wenn du mir versprichst, mich nicht vor ein Auto oder in den Fluss zu stoßen.«
    Sie hob verdutzt die Brauen, dann musste sie lachen und auch Jay ertappte sich bei einem flüchtigen Lächeln. Sie holte tief Luft, als müsste sie sich Mut machen, dann gab sie den Abstand tatsächlich auf und trat direkt neben ihn. Wieder erfüllte diese knisternde Spannung ihrer Nähe die Luft. Es war wie ein Flirren, das ihn leicht schwindelig machte. Verstohlen musterte er sie von der Seite. Ihr Haar war zerzaust und ihre Wangen gerötet, und er musste sich widerstrebend eingestehen, dass er sie tatsächlich hübsch fand – auf eine wilde, ungezähmte Weise, die in einem seltsamen Kontrast zu ihrer plötzlichen Ernsthaftigkeit stand.
    Sie deutete über den Fluss. »Was siehst du dort?«
    Er musste sich zwingen, den Blick von ihr abzuwenden. Hinter der Brücke erhob sich die Skyline des südlichen Manhattan. Die Postkarten-Silhouette, die jeder sofort vor sich sah, wenn er den Namen New York hörte. Nur dass es in Wirklichkeit viel, viel beeindruckender war. Sogar jetzt, vor einem taubengrauen Himmel, im Nieselregen.
    »Das ist Manhattan.«
    »Ja, schon. Aber was siehst du?«
    »Hochhäuser. Ein Flugzeug, das über die Stadt fliegt. Und etwas weiter hinten das Chrysler Building. Und natürlich die Spitze des Empire State …«
    »Schau genauer hin! Versuche hinter die Dinge zu blicken. Denke am besten nur an deinen Vater und vergiss, dass das Hochhäuser sind. Versuche mit fremden Augen zu schauen.«
    Gänsehaut stellte die Härchen an seinen Armen auf, als sie noch näher zu ihm trat. Nun berührten sie sich fast und plötzlich schlug sein Herz schneller. Sie duftete leicht nach frischem Gras und etwas Süßem, das er nicht benennen konnte.
    »Was siehst du?«
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    Lautlos wich sie zurück und trat hinter ihn. Er zuckte zusammen, als sie ihm die Hände über die Augen legte, aber dann entspannte er sich. Madisons Hände waren immer warm, fast fieberheiß – Ivys Finger dagegen kalt vom Wind. Ihm wurde leicht schwindelig.
    »Versuche zu zweifeln«, flüsterte Ivy ihm beschwörend zu. »Bitte, nur für einen Moment.«
    Komischerweise musste er ausgerechnet jetzt ständig an Madison denken.
    Was würde sie sagen, wenn sie mich hier sehen würde? Wenn sie wirklich so eifersüchtig ist, wie Aidan sagt …
    » Und jetzt: Schau!« Sie zog die Hände weg und trat neben ihn. »Und?«
    Sie blickte ihn so voll wilder Hoffnung an, dass er sich unwillkürlich wirklich Mühe gab, irgendetwas zu erkennen, das offenbar nur sie wahrnahm.
    »Tut mir leid, Ivy.«
    Er konnte förmlich fühlen, wie ihr der Mut sank. Und gleichzeitig machte sich auch in ihm eine Enttäuschung breit, die er nicht einzuordnen wusste.
    »Du hast eben an sie gedacht, nicht wahr?«, rief sie verzweifelt. »Liebst du sie wirklich schon so sehr, dass du sie keinen Augenblick vergessen kannst? Solange diese Madison in deinen Gedanken ist, funktioniert es nicht!« Jetzt schwang ein hasserfüllter Unterton mit. »Du musst sie vergessen! Du musst!«
    »Wie soll das gehen? Und warum …«
    Ivy sprang vor ihn und packte ihn grob an der Jacke. Er war viel zu überrumpelt, um sich dagegen zu wehren, dass sie ihn ein Stück zu sich herunterzog. Gerade weit genug, um … ihn zu küssen! Im Gegensatz zu Madisons Kuss, der alles in weiche Farben tauchte, war dieser hier fordernd und packte ihn bei jeder Faser seines Seins. Kühle Lippen, die wie süßer Schnee schmeckten, sogen sich an seinen fest. Verdammt, was machst du? , schrie es in seinem Kopf. Aber dann vergaß er Madison tatsächlich und auch alles andere.

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