Zweilicht
nicht, aber immerhin waren zwischen den Redwood-Samen ein paar zerknitterte Geldscheine. »Hier, reicht das?«
Madman sah die Scheine an, als würde Jay versuchen, ihm ein angerotztes Taschentuch anzudrehen. »Was soll ich denn damit, du Pfeife? Hast du nichts zu essen dabei?«
»Von dem Geld kannst du dir doch was kaufen.«
Der Mann lachte schallend. »Na schön, du hast mich zum Lachen gebracht, netter Versuch.«
Jay kramte das letzte Stück von Lindas Kuchen aus der Jackentasche. Er war zerkrümelt und klebte an der Papierserviette, aber Madmann bekam leuchtende Augen.
»Sag ihr, Jay will mit ihr sprechen!«
Madman schüttelte tadelnd den Kopf. »Das mit den Weibern musst du aber noch lernen. Ich sage ihr, du musst sie unbedingt wiedersehen , right? Andererseits scheint sie sauer auf dich zu sein. Deshalb sage ich ihr besser, wenn sie dich nicht erhört, wirfst du dich aus Verzweiflung vor ein Auto.«
Wenn es nur das ist , dachte Jay. Das erledigt sie schon für mich . »Erzähl ihr keinen Blödsinn. Richte es ihr einfach aus.«
»Hey, Romeo!«, rief ihm der Mann hinterher. »Hast du nicht eigentlich was mit der anderen? Die, mit der du gestern im Kino rumgeknutscht hast?«
*
Diesmal führte sein Weg in Richtung Nordwesten, vorbei an der Manhattan Bridge, die schon von Weitem sichtbar abgesperrt war. Blaue Warnlichter und Absperrungen blockierten die Zufahrt. Autos hupten im Stau, der in Richtung des Tunnels und der Anlegestellen der Fähren führte. Ganz Brooklyn stand kopf. Ein Obsthändler spritzte den Gehsteig vor seinem Laden mit Wasser ab, und Jay wechselte die Straßenseite, um der Nässe zu entgehen. Er war gar nicht gut in Form. Seitenstechen machte ihm ebenso zu schaffen wie die Prellungen, die nun wieder regelrecht brannten. Kurz vor der Brooklyn Bridge musste er innehalten, um zu verschnaufen. Erschöpft blieb er vor einer Bushaltestelle stehen und stützte sich auf den Knien ab. Um ihn herum brandete der Verkehr. Einer der Dog Walker, die gegen Bezahlung Hunde ausführten, kam auf ihn zu. Er kaute gelangweilt Kaugummi, während er neun Hunde verschiedenster Rasse den Gehsteig entlangdirigierte. Jay wollte ihm ausweichen, als eine wirbelnde Gestalt seine Aufmerksamkeit fing. Offenbar war die Stadt doch nicht so groß, wenn man immer wieder denselben Leuten über den Weg lief. Es war die Holländerin. Mit raschelndem Papierrock tanzte sie um einen Mülleimer herum und summte dabei vor sich hin. Dann entdeckte sie ihn. »Sieh an, der junge Ire! Freust du dich auch schon auf die Parade?«
Einen Moment lang war er versucht, sie zu ignorieren. Aber sie lächelte ihn so begeistert an, dass er es nicht fertigbrachte, sie einfach stehen zu lassen.
»Welche Parade?«
»Na, heute ist Columbus-Tag. Wir feiern die Landung des italienischen Seefahrers Christoph Columbus in der Neuen Welt am 12. Oktober 1492. Der Festumzug findet auf der 5th Avenue statt. Du siehst es dir doch an?«
»Vielleicht. Wenn ich eine Fähre über den Fluss bekomme. Die Brücke ist ja gesperrt.«
»Ah! Die wundervolle Brücke!«, rief sie überschwänglich. »Man nennt sie Sehnsuchtsbrücke . Der Bau begann 1869 und dauerte vierzehn Jahre. Sie führt in das Herz von Manhattan und symbolisiert den Traum von einem besseren Leben.«
Sehnsuchtsbrücke. Das brachte in ihm etwas zum Schwingen. Ein leiser Schmerz, ein Ziehen zwischen Bauch und Brust, das er nicht einordnen konnte.
»Du … weißt ja wirklich viel über New York.«
Die Holländerin errötete vor Stolz und strich sich die Schürze glatt. Zum ersten Mal betrachtete Jay ihren Rock genauer. Er war über und über mit Schlagzeilen aus der Geschichte der Stadt bedeckt, einige Zeitungen waren altertümliche Flugblätter, die über Brände und Überfälle berichteten. Es gab Börsennachrichten aus der Zeit der großen Depression und aktuellere Meldungen. Jay suchte nach dem heutigen Tag, aber alles, was er fand, waren Zeitungen vom 2. und 3. Oktober. Dort, wo es von Weitem so aussah, als trüge die Frau eine helle Schürze, fächerten sich einfach nur leere Zeitungsblätter auf. Sie bemerkte sein Interesse mit Wohlwollen und machte eine raschelnde Drehung. »Frag mich, wenn du etwas wissen willst, junger Ire.«
»Hör auf mit dem Iren. Ich heiße Jay. Und du?«
Sie blickte ihn ein wenig ratlos an. Dann hob sie geziert die Hände in einer Geste, die wohl die altmodische Entsprechung eines Schulterzuckens war. »Liberty«, sagte sie mit einem kleinen, verlegenen
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