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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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Plötzlich gab es nur den schnellen Strom von Empfindungen, der ihn auf Gedeih und Verderben mitriss.
    Ebenso abrupt, wie sie ihn an sich gezogen hatte, ließ Ivy ihn wieder los.
    »Deshalb!«, flüsterte sie. »Schnell! Denk nicht nach, sieh hin!«
    Benommen gehorchte er.
    Es war immer noch Manhattan – und auch wieder nicht. Die Umrisse der Stadt waren noch da, aber die Häuser waren nur noch gigantische Skelette, durch die der Himmel hindurchschimmerte. Das Flugzeug zog seine Linie über den Himmel. Doch dann glitt es in eine viel zu enge Kurve und bewegte sich auf eine Weise, auf die kein Flugzeug sich bewegen durfte. Schlägt es … mit den Flügeln? Und dann war es nicht länger ein Flugzeug, sondern ein riesiger Greifvogel, vielleicht sogar ein Adler. Er setzte zu einem Sturzflug an – mitten in ein Haus. Nein, er flog durch das Haus und stürzte sich auf etwas, das im zwanzigsten Stock oder höher sein musste. Ein paar Sekunden später hatte er seine Beute gepackt und trug sie durch die Luft. In seinen Fängen zappelte etwas. Dann verblasste auch die letzte Spur von Häusern, und Jay blickte auf einen herbstlichen, zerklüfteten Dschungel voller Schatten, der in der Nachmittagssonne zu leuchten schien wie ein verwunschenes Land. Das Sonnenlicht hatte einen goldenen Glanz, selbst die dunklen Gewitterwolken, die schwer über der Insel hingen, hatten einen Bronzerand. Wie auf einer der Postkarten .
    »Jetzt siehst du!« Er hörte an ihrer Stimme, dass Ivy lächelte, und wagte nicht einmal zu blinzeln. »Was … was ist das?«
    »Meine Welt«, erwiderte Ivy. »Und auch die von Robin – und dir.«
    Das, was ihn fast noch mehr gefangen nahm als dieses fremde goldene Land, war die summende Stille um ihn. Das Rauschen von Verkehr war längst zu Wasserrauschen geworden. Und obwohl der East River ruhig vor ihm lag, hörte er ganz nah die Strömung eines schnellen, gefährlichen Flusses.
    Eine parallele Wirklichkeit? Komischerweise schossen ihm die Plots von unzähligen Filmen durch den Kopf, in denen genau das passierte: sich überlagernde Wirklichkeiten, Leute, die in eine magische Welt gezogen wurden, vielleicht in ein Elfenland …
    Heftig schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht an so was!«
    »Dann solltest du jetzt damit anfangen«, meinte sie trocken.
    »Es … ist nicht real!«
    »Wirklich nicht? Was ist denn real, Jay?«
    Panik überwältigte ihn, das Gefühl zu ersticken und den Halt zu verlieren, wenn er nicht sofort etwas fand, das ihm seine Wirklichkeit zurückbrachte. Madison, dachte er. Matt. Meine Welt .
    Er war unendlich erleichtert, als der Dschungel verschwand wie weggeschnippt. Hochhausfassaden spiegelten taubengraue Wolken. Lärm brach über ihn herein. Irgendwo über ihm kreischte eine Eisensäge so laut auf, dass es schmerzte.
    »Mannahatta ist wirklich!«, beharrte Ivy.
    »Für dich. Aber nicht für mich.«
    »Ach ja?« Ivy kam so nah an ihr heran, dass er sein Spiegelbild in ihren Augen sehen konnte. »Brennt ein Feuer in eurem Ofen? Gibt es auch nur ein einziges Buch in deinem Haus?«, wisperte sie. »Träumst du? Und wenn ja, was siehst du? Achte auf die Details! Sie irren sich meistens in den Details.«
    »Das klingt wie eine Textzeile aus Matrix .«
    Sie sah ihn so verständnislos an, dass er hinzufügte: »Der Film … Keanu Reeves.«
    »Filmkeanureeves?« Sie kniff irritiert die Augen zusammen. »Ist das ein Name?«
    Es war wirklich so, als würden sie aus völlig verschiedenen Welten kommen. Ob Madison sie sehen würde?
    Er prallte erschrocken zurück, als er sah, dass das Flusswasser und ein Brückenpfeiler plötzlich durch Ivy hindurchschimmerten.
    »Ivy? Du … verschwindest!«
    Sie lachte bitter auf. »Siehst du? Genau das meinte ich. Jetzt denkst du an sie . Und alles ist anders.«
    Ein jaulendes Bellen ließ sie beide zusammenschrecken.
    Es war Feathers. Er kam mit wehenden Ohren aus der Richtung der Straße herangefegt und lief zum Fluss. Ab und zu blieb er stehen und senkte die Nase zu Boden, als würde er einer Spur folgen.
    »Runter, bevor er dich sieht!« Jay wusste selbst nicht, warum, aber er gehorchte Ivy und duckte sich ebenfalls in den Sichtschutz einiger Metalltonnen. Ivy griff in einen Beutel an ihrem Gürtel und holte eine Handvoll Samen hervor. Die gleichen braunen, flachen Samen, die er vorhin im Park eingesammelt hatte. »Was machst du da?«
    »Scht! Leise. Beweg dich nicht.«
    Sie streute die Samen im Kreis um sich und ihn. Soll das ein magischer Kreis

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