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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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mich schon verstanden.«
    »Geist?«, rief sie erbost aus. Sie war so zornig, dass sie rote Flecken auf den Wangen hatte. »Dann verrate mir mal, ob Gespenster das hier machen!«
    Blitzschnell hob sie einen losen Stein auf, der auf der morschen Mauer lag. Dann surrte das Wurfgeschoss knapp an seinem Ohr vorbei. Irgendwo hinter ihm zersplitterte Glas.
    »Bist du wahnsinnig?«, schrie Jay.
    »Allerdings! Und beim nächsten Mal ziele ich richtig.« Aber ihre Mundwinkel zuckten bei diesen Worten wieder und plötzlich musste sie lachen. Es war ein etwas raues, direktes Lachen, das ihn irritierte. »Du gefällst mir wirklich, wenn du wütend bist, Jay. Aber wenn du Robins Kette zurückhaben willst, solltest du etwas netter zu mir sein.«
    Robins Kette. Es durchzuckte ihn bis in die Fußspitzen. Er wusste ganz sicher, dass er ihr den Namen seines Vaters nicht genannt hatte. Er konnte spüren, wie seine Vernunft darum rang, die Oberhand zu behalten. Aber das Schlimme war, dass die Hoffnung wieder aufflammte und jeden klaren Gedanken zu verbrennen drohte. »Du kanntest meinen Vater als doch?«, rutschte es ihm heraus.
    »Ja«, sagte sie vollkommen aufrichtig und ernsthaft.
    »Aber … du hast gesagt, du hättest noch vor zwei Tagen mit ihm gesprochen. Das ist unmöglich – er ist tot.«
    »Natürlich ist er das«, erwiderte sie fast gelangweilt und sprang auf die Straße. »Sonst könnte er dich ja auch selbst warnen, oder?«
    Diese Kaltschnäuzigkeit brachte ihn völlig außer Fassung.
    Ohne die Brillantkette auch nur noch eines Blickes zu würdigen, rannte sie wieder los. Diesmal verlor er sie tatsächlich aus den Augen. Schon in der nächsten Straße kam er wegen der Brückenabsperrungen nicht weiter, also wich er aus und lief zur Dock Street am Fuß der Brücke, direkt am Fluss. Keuchend blieb er stehen und hielt Ausschau nach ihr. Links über ihm erhob sich die Brücke, ein filigranes Kunstwerk aus Stahl. Wie eine riesige Hängematte war die Konstruktion an zwei gemauerten Pfeilern aufgehängt. Die Durchgänge waren gotisch anmutende Doppelspitzbögen. Stahlseile hingen lose von ihren Verankerungen, die weißblauen Flammen der Schweißgeräte ließen Jay blinzeln. Die Luft war erfüllt vom Kreischen und Heulen der Reparaturarbeiten.
    »Ivy?« Er sah sich um, aber alles, was er entdeckte, waren ein Hotdog-Verkäufer und ein Rudel Mütter, die mit ihren Kindern am Fluss spazieren gingen. Irgendwo grölte ein Straßensänger einen Country-Song, begleitet von einer verstimmten Gitarre. »Ivy!« Niemand beachtete ihn, vermutlich wirkte er nur wie ein weiterer Madman, der hier nach imaginären Freunden rief.
    Doch dann tauchte sie tatsächlich auf, atemlos vom Laufen und unendlich erleichtert. »Ich dachte schon, ich hätte dich verloren! Warum bist du abgebogen? Wir müssen doch da oben über die Brücke.«
    Klar, und wie?
    »Ich gehe nirgendwohin, bevor du mir nicht endlich sagst, wer du bist und was du von mir willst.«
    Als er auf sie zukam, sprang sie sofort zurück und vergrößerte den Sicherheitsabstand. Argwohn huschte über ihre Miene. Offenbar wusste sie, dass sie hier auf dem Gelände weniger Chancen gegen ihn hatte als mitten in der Stadt. Für einen Moment spielte er tatsächlich mit dem Gedanken, sie zu überwältigen und sich seine Kette zu holen, aber dann stellte er fest, dass er überhaupt nicht gegen sie kämpfen wollte. Sogar sein Zorn auf sie war verraucht. Es wäre einfacher, wenn ich sie nicht leiden könnte . Aber widerstrebend musste er zugeben, dass er sie auf eine Art, für die er keinen Namen hatte, sogar mochte. Und Robin würde sie gefallen.
    Sie legte ruckartig den Kopf schief. »Du denkst gerade an ihn, nicht wahr?«
    »Wie kommst du darauf?« Er schluckte schwer, weil es ihm plötzlich die Kehle zuschnürte.
    »Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man liebt. Und seit ich es weiß, sehe ich, wenn jemand traurige Augen bekommt. Ich sehe sogar die Farbe deiner Gedanken. Sie sind so dunkel wie der Fluss. Du musst deinen Vater vermissen.«
    Auf alles war er gefasst gewesen, aber nicht auf so etwas. Und das Komischste dabei ist, dass ausgerechnet sie die Einzige ist, mit der ich über meinen Vater sprechen kann.
    » Lost in my yesterday’s blues «, sang der Kerl mit der Gitarre aus voller Kehle. Aber in Jay war es mit einem Mal still. Und dann überraschte er sich selbst, indem er dem seltsamen Mädchen eine Antwort gab. »Ja. Ich vermisse ihn. Sehr sogar.«
    Es fühlte sich an, als

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