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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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Himmel. Überhaupt war der Himmel über New York immer klar. Das Schuljahr fängt in den USA nicht im Oktober an, sondern im September. Es gab kein Internet, keinen Strom und jeden Tag Fleisch. Bei dem Gedanken an das erlegte Reh in der Küche wurde ihm beinahe übel. Er mochte sich nicht vorstellen, was sie ihm noch alles vorgesetzt hatten. Und vermutlich hatte er sich nur eingebildet, dass das Fleisch gebraten war.
    Wie eine Folge von Rückblenden in einem Film zogen weitere Erinnerungen an ihm vorbei: Der planlose Unterricht in der zerstörten Schule, Mr Millar, der wie die unbeholfene Imitation eines Lehrers nur noch über Eulen geredet hatte. Der Film im Park, der sich verändert hatte. Und Feathers, der sich von einem Tag auf den anderen so benahm, als würde er Jay nicht mehr kennen.
    Mit einem Mal hatte er das Gefühl, haltlos und endlos zu fallen. Aber noch immer wagte er es nicht, wirklich an Charlie zu denken. Krampfhaft stellte er sich stattdessen andere Dinge vor. Einfache, greifbare Dinge. Nie wieder Matts Werkstatt sehen, nie wieder Pizza, nie wieder Filme. Und schon das war mehr, als er ertragen konnte.
    »Ich habe auf ein Stück Stein gestarrt und mir eingebildet, eine SMS zu lesen. Und ich habe einfach so hingenommen, dass alle Menschen um mich herum sich anders benahmen als sonst.« Er stöhnte auf, drückte die Handballen gegen die Augen.
    Ivy legte ihm tröstend die Hand auf den Arm. »Ich habe versucht, dich aus der Trugwelt zu wecken. Aber es war fast schon zu spät.«
    »Deshalb hast du mich vor das Auto gestoßen und die Ampel herunterfallen lassen?«
    »Das Auto hast nur du gesehen und die Ampel war nur ein Stück Blech, das ich nach dir geworfen habe, es sollte Krach machen, damit du erschrickst.«
    Und ich habe einfach die passende Szenerie darum gebaut – bremsende Autos, panische Menschen …
    »Nur ein einziges Mal konnte ich dich dazu bringen, diese Madison zu vergessen.« Er schauderte, so hasserfüllt klang Ivys Stimme nun.
    »Wer ist sie? Hast du sie gesehen? Wie sieht sie in Wirklichkeit aus?«
    »Wir hatten gehofft, du könntest uns das sagen. Wir wissen nur, dass sie andere Gestalten annehmen können. Diese Madison kenne ich nur so, wie sie sich dir gezeigt hat. Und die Tiere – die Kojoten, die Bären, das sind alles nur ihre Helfer, denen sie ihren Willen aufzwingt. Sie spielt mit ihnen wie mit Puppen. Ich habe sie als das gesehen, was sie sind – du dagegen hast sie in der Gestalt wahrgenommen, die Madison ihnen in deinen Augen gegeben hat.«
    Pete und die anderen Spieler. Alles nur Statisten. Und jetzt weiß ich auch, warum es im Park so sehr nach Hund und Tierfell gerochen hat. Er sah Madisons Lächeln vor sich, ihre honigfarbenen Augen. »Liebst du mich?« , hallte ihre sehnsuchtsvolle Stimme in seiner Erinnerung. Sie klang nun wie Hohn, und dennoch …
    »Wendigos Wächter können Menschenträume sehen und sie benutzen, um daraus ihre Magie zu weben«, sagte Ivy. »Wer weiß, wie lange sie dich schon schlafend beobachtet haben, deine Träume in sich aufgesaugt, deine Sehnsüchte studiert, um dir dann die Welt vorzuspiegeln, die du kanntest.«
    »Wie oft warst du schon hier?«
    »Jede Nacht.«
    »Jede Nacht? Du bist wahnsinnig!«
    »Ich kann nicht anders!«
    Er erinnerte sich, dieses Gespräch gehört zu haben, in seinem Zimmer, in der Nacht vor dem Sturm, den es nie gegeben hatte. Sie waren bei mir, während ich geträumt habe. Sie haben meine Träume beobachtet und …
    »… so haben sie von Madison erfahren«, vollendete er seinen Gedanken laut. »Sie war eine Mitschülerin von mir, ich kannte sie kaum, und eigentlich habe ich nie mehr über sie erfahren als bei unserem Spaziergang nach der Schule. War das mein letzter Tag in der richtigen Welt? Und alles andere, ab dem Sturm, war … die andere Madison?«
    »Das Monster«, korrigierte ihn Ivy. »Ja, es hat diesen Bann über dich gelegt. Nur deshalb hast du geglaubt, das Ding zu lieben.«
    Das Ding. Seine Hand glitt zu dem Amulett.
    »Aber warum hat sie mich aufgeweckt?« Warum wollte sie, dass ich sie liebe?
    »Weil sie tückisch und grausam ist. Diese Kreatur und ihre Helfer haben mit dir gespielt wie eine Katze mit der Maus.«
    In Ivys Miene zeichnete sich etwas ab, was er an ihr noch nicht kannte. Ein gefrorener Schmerz, gefährlich dicht unter der beherrschten Oberfläche.
    »Du hasst sie wirklich, nicht wahr?«
    »Mehr als alles andere auf der Welt«, antwortete sie mit einer Leidenschaft, die ihm Angst

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