Zweilicht
und Reißzähne wie Zuckerwatte. Von den Klauen, den Armknochen und den gewaltigen Wirbelsäulen hingen magische Amulette wie bizarrer Weihnachtsschmuck: Zweige, Rabenfedern und kleine Weidenringe, die wie Traumfänger wirkten.
Jay stürzte zur Tür. Sie war morsch und mit einem kantigen Stück Holz verkeilt. Er trat dagegen, mit Getöse polterte es auf den Boden und schreckte eine Staubwolke auf, die ihn zum Husten brachte.
Draußen blendete ihn das Licht so sehr, dass er erst einmal gar nichts sah. Er taumelte zur Treppe und stieß auf eine lange Linie von braunen Baumsamen. Zitternd überschritt er die magische Grenze und ging die Treppe hinunter.
»Lass ihn, Ivy«, hörte er Fayes sanfte Stimme hinter sich. »Er wird nicht weit gehen. Gib ihm Zeit.«
Mittagslicht umspielte Ruinen in einem Dschungel. Mannahatta. Nur dass es heute nicht verwunschen wirkte, sondern grauenhaft real. Flüsse rauschten in der Nähe, ansonsten war es still wie in einem menschenleeren Wald. Dort, wo sich früher die Straße befunden hatte, konnte er flache Hügel erahnen, die in einer seltsamen Regelmäßigkeit eine Reihe bildeten. Erst nach einer Weile kam er darauf, dass es umwucherte Autowracks waren. Mitten auf der Straße wuchs ein Holunderbaum mit einem Stamm von mehr als zwei Metern Durchmesser. Links von ihm lag der Central Park. Nur gab es ihn nicht mehr. Um ihn herum erhoben sich umrankte Hochhäuser und eine völlig veränderte Skyline. Vor allem Bäume schluckten den Himmel, denn die waren so groß, wie sie hier einfach nicht existieren durften. Wie in Jurassic Park, dachte er benommen. Nur in der Zukunft. Ich bin in einem verdammten Science-Fiction-Film gelandet!
Er stolperte weiter, seine bloßen Füße versanken im kalten Morast. Auf einer bemoosten Stufe ließ er sich nieder und zog die Beine an den Körper. Mit brennenden Augen suchte er nach seinem New York. Die Wolkenkratzer waren zum Teil eingestürzt und nur noch halb so hoch. Doch er war erleichtert, als er wenigstens den Trump Tower und das höchste Gebäude des Rockefeller Centers, den »Top of the Rock« entdeckte. Nur waren diese Gebäude jetzt fadenscheinig und durchbrochen wie alte Spitze.
»Du siehst traurig aus, Jay.« Die Holländerin setzte sich neben ihn, sehr aufrecht und vornehm, und betrachtete den Dschungel.
Verstohlen ließ Jay den Blick über die Schlagzeilen gleiten. Der neueste Artikel stammte vom 3. Oktober – das war kaum zwei Wochen her.
NEUE EISZEIT IN NEW YORK ? lautete eine Schlagzeile. Eine andere begann mit:
RÄTSELHAF …
Der Rest der Schrift war unter einem anderen Zeitungsblatt verborgen.
»Was ist passiert, Liberty?«
»Sie kamen auf tragische Weise ums Leben«, antwortete sie rasch. »Fast die ganze deutsche Gemeinde in Williamsburg. Es gab einen Unfall auf einer Dampferfahrt. Das war das Ende einer Ära – im Jahr 1904 …«
»Weich mir nicht aus! Ich meine dieses Jahr! Vor einer Woche …« Er verstummte, als die Erkenntnis ihn wieder wie ein Boxhieb in den Magen traf.
»Ach das, damals«, erwiderte Liberty bedrückt. »Ja, das war schon traurig.«
Eine Weile schien sie noch mit sich zu ringen, dann zupfte sie den Artikel hervor. RÄTSELHAFTE SCHLAFKRANKHEIT lautete die Schlagzeile. Jay überflog die Zeilen nur, Schlagworte, die alles nur noch schlimmer machten: Weltweit betroffen … Millionen Erkrankte … Ohnmacht … innerhalb von drei bis vier Stunden … Koma … Möglicherweise ein Virus …
»Es wurde ganz plötzlich kalt und dunkel«, sagte Liberty. »Schneestürme im Oktober, extremste Minusgrade wie am Nordpol. Der Verkehr stand still, kein Flugzeug konnte mehr abheben. Die Menschen wurden müde und vergaßen einfach, was sie tun wollten. Manche schliefen sofort ein, manche am Steuer ihres Wagens, andere irrten noch eine Weile wie Schlafwandler durch den Schnee. Hunde liefen frei herum, weil ihre Besitzer sie vergessen hatten. Alles war wie ein Traum. Und dann ging der Tag zu Ende und es kam jene letzte Nacht. Sie war blau wie Lapislazuli und sie explodierte in reiner Magie und Kälte. Die meisten Menschen starben sofort im Eishauch und wurden später von wildernden Hunden gefressen.« Sie seufzte tief. »Einige Menschen aber schliefen nur. Die Tiere ließen sie unberührt. Ich habe sie beobachtet, Jahr um Jahr. Und währenddessen wanderten Wölfe aus dem Norden ein, Kojoten streiften durch den Central Park, Bären und Elche kamen, Rotfüchse und Pumas. Als keiner sich mehr um die U-Bahn-Schächte und
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