Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina

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die Straßen kümmerte, vermehrte sich eine Zierpflanze, der chinesische Götterbaum, überall. Nach fünf Jahren hebelten ihre Wurzeln die Bürgersteige hoch und zerstörten die Abwasserkanäle. New York war ursprünglich ein sumpfiges Flussgebiet, weißt du? Überall im Untergrund sprudeln Quellen. Als die Pumpen nicht mehr arbeiteten, liefen die U-Bahn-Schächte mit Wasser voll. Nur fünfzehn Jahre hat es gedauert, bis die großen Avenues in Manhattan wieder zu Flüssen geworden waren. Und die Schläfer alterten, während ihre Häuser um sie herum zerfielen und die Natur die Stadt verschlang. Sie starben erst, als ihre Lebensuhr abgelaufen war, die allerletzten von ihnen vor fünfzig Jahren. Nur eine Handvoll blieb vom Alter verschont. Sie liegen wie erstarrt, altern nicht, überdauern zwischen Leben und Tod.« Liberty schluckte und plötzlich schwammen ihre Augen voller Tränen. »Ihre Träume füllen die Stadt, aber sie wiederholen sich immer und immer wieder. Manchmal gehe ich in diesen Träumen spazieren, aber inzwischen ist es ebenso langweilig, wie mit dem Wind zu reden.«
    Jay presste die Lider zusammen, bis er nur noch rot glühendes Pochen sah. Bitte lass mich aus diesem Albtraum aufwachen .
    »Du bist der einzige Mensch, mit dem ich reden kann. Diese Islandleute sehen mich nicht. Und mit den anderen, bei denen du warst, rede ich nicht.« Madison konnte dich wahrnehmen , dachte Jay mit einem Frösteln. Sie ist kein Geist – aber auch kein Mensch.
    Liberty tänzelte davon und diesmal bestand kein Zweifel, dass er nicht einmal einen Schritt hörte, nur das Rascheln von sechshundert Jahren New Yorker Geschichte, die nun unwiderruflich bedeutungslos geworden waren.
    »Mit wem hast du dich da eben unterhalten?« Er öffnete die Augen auch dann nicht, als Ivy sich neben ihn setzte.
    »Mit dem Geist New Yorks«, erwiderte er tonlos.
    »Wir müssen zurück«, sagte Ivy sanft, aber nachdrücklich.
    »Zurück.« Er lachte bitter auf. »Klar. Lass mich einfach in Ruhe.«
    »Das kann ich nicht. Ich bin jetzt für dich verantwortlich, ich beschütze dich, ob du willst oder nicht. Glaub nicht, dass du schon außer Gefahr bist. Hier, leg das um und trage es immer bei dir, vor allem nachts. Ihre Macht ist dann am stärksten.«
    Er öffnete die Augen und sah, dass sie ein Lederband hervorzog. Es sah aus wie Indianerschmuck, aufgereihte, geschliffene Glasstücke und Elsterfedern.
    »Das Glas wirkt wie eine Falle, darin fängt sich ihre Magie. Und die Elsterfedern verbergen dich und deine Träume vor ihnen. So können sie dich nicht mehr in ihre Trugwelt ziehen.«
    Schamanenzauber hoch drei . Robin wäre begeistert. Robin, der mich nie warnen wollte und der nicht hier ist.
    »Bleib mir mit diesem Zauber vom Hals. Was, wenn das auch nur eine weitere Trickster-Lüge ist? Vielleicht ist das hier ja die Trugwelt. Vielleicht gehört das Monster, das sich als mein Onkel ausgegeben hat, zu euch, und ihr habt ihn geschickt, um mich zu euch zu locken …«
    Sie packte ihn am rechten Arm. »Jay! Sieh mich an!« Jetzt klang sie verärgert. Ihre Augen hatten den schattigen Glanz bekommen, der sie fremd wirken ließ. »Hast du wirklich nie etwas bemerkt?«
    »Nein!«
    »Dann denk nach! Als ich dich das erste Mal zufällig auf einer Erkundungstour entdeckte, bist du einem Kojoten hinterhergelaufen und hast behauptet, er sei dein ›Hund‹. Und als drei Wölfe uns angegriffen haben, hast du mich angeschrien, weil ich sie mit dem Speer verletzt habe, um uns zu schützen. Und vorher hatte ich dir dabei zugeschaut, wie du dich mit Bären und Kojoten um einen alten Ball aus Lumpen geprügelt hast. Ein paarmal hatte ich Angst, sie würden sich nicht länger zurückhalten und dich töten.«
    Alles in ihm wehrte sich dagegen, es zuzugeben, aber er kannte die Antwort nur zu gut. Das Spiel ohne Regeln hatte ihn tatsächlich an eine Balgerei mit Tieren erinnert. Und wie oft hatte er sich Tierhaare von seiner Kleidung geklopft und sich nichts dabei gedacht? Aber es gab noch mehr, viel mehr. Er dachte an das vergilbte Plastikgeschirr in Matts Küche und schauderte. Plastik vergeht nicht. Er erinnerte sich an das Blatt, das er in der Schulkantine für ein Colaglas gehalten hatte. Und der bittere, eiskalte Kaffee war vermutlich Pfützenwasser gewesen.
    Wie konntest du so blind sein? Das Licht war immer bläulich, wie in einer Mondnacht, es gab kein warmes Licht. Das Flugzeug, das ich gestern gesehen habe, hinterließ keinen Kondensstreifen am