Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
Vom Netzwerk:
Grinsen im Gesicht.
    Jay blinzelte irritiert. Ihn gibt es immer noch?
    »Ach, hat er dich schon selbst gefunden.« Madman deutete mit einer Kopfbewegung auf Jay. »Er wollte dich nämlich unbedingt sprechen. Er sagte, wenn du dich nicht mit ihm triffst, wirft er sich aus Liebeskummer vor ein Auto.«
    Ivy hob die Brauen. »So?« Als sie Jays Miene sah, blitzte zum ersten Mal wieder ein echtes Lächeln in ihrem Gesicht auf. Sie holte aus ihrer Jackentasche eine Handvoll Asche hervor. »Hier, das habe ich dir mitgebracht. Du hast bestimmt Hunger.« Mit diesen Worten warf sie die Asche in die Luft.
    »Cool!«, rief Madman begeistert. »Popcorn!«
    Er tanzte mit der Aschewolke, jagte den Flocken hinterher und schnappte mit dem Mund danach wie ein übermütiger Hund. Es war ein bizarrer und auch ein irgendwie trauriger Anblick, der Jay unangenehm berührte.
    Ivy zog ihn mit sich durch den Spalt in der Efeuhecke in die Empfangshalle eines Bürohauses.
    »Wird er uns nicht an die … die Wächter verraten?«
    »Die Wächter sehen ihn nicht. Er ist kein Gespenst der Stadt wie deine Holländerin, sondern war ein Mensch und gehörte zu einer Expedition. Aber er verstrickte sich in die Träume eurer Zeit und fiel ihnen zum Opfer. Das ist die Gefahr der Städte.«
    »Was heißt das?«
    »Ganz einfach: Jede Zeit, alles, was sich ereignet, hinterlässt Spuren und Bilder. Auch darauf haben die Wächter zurückgegriffen, um deine Trugwelt zu erschaffen. Jedes Haus hat sein eigenes Gespenst, jede Straße, alles, was mit Gedanken und Gefühlen verknüpft wurde, bringt seine eigenen Trugbilder hervor. Und die sind hungrig.« Sie hob ihm ihr Handgelenk entgegen. »Glasperlen. Damit bannen wir diese Geister der Stadt. Sie fangen sich darin und finden keinen Ausgang, aber sobald man die Deckung fallen lässt, passiert einem dasselbe wie dem Mann da draußen. Er starb einsam, er verhungerte einfach, ohne es zu merken. Seitdem ist er ein Spielball der Stadt. Er bildet sich ein, noch lebendig zu sein und in deiner Zeit zu existieren.«
    Durch den Vorhang aus vertrockneten Ranken beobachtete Jay Madman. Er sprang gerade zurück und schüttelte die Faust gegen einen unsichtbaren Gegner. »Das ist ein Zebrastreifen, Bruce Willis!«, brüllte er in die Stille. »Fahr doch auch gleich die Schulklasse da drüben über den Haufen, du irrer Cop!«
    *
    Die Treppen waren zwar halb zerfallen, aber noch passierbar. Erst ab dem dreißigsten Stockwerk wurde das Gebäude immer baufälliger und Ivy improvisierte aus Seilen eine Art Strickleiter. Schließlich schlüpfte sie aus dem ehemaligen Treppenhaus in die Büroetagen. Jay biss die Zähne zusammen und zog sich mit pochendem Arm hinter ihr hoch. Mit schmerzenden Muskeln und rasendem Puls schöpfte er wieder Atem. Die Verwundung machte sich immer noch bemerkbar.
    Eine zerfetzte Plastiklampe schaukelte an einem verkrusteten Kabel im Wind, und auch ein paar Plastikschilder entdeckte er, auf denen der Firmenname » NBC National Broadcasting Company« zu lesen war. In windgeschützten Ecken standen die verschimmelten, rostigen Skelette von Bürostühlen und einige Rechner. Jay erschrak, als ihm ein getigertes Etwas entgegensprang und mit einem Fauchen an ihm vorbeisauste. Er stolperte zur Seite – und brach mit einem Bein in den Boden ein. Im nächsten Moment lagen schon Ivys Arme wie eine Klammer um seine Brust.
    »So viel Angst vor einem Kätzchen?«, neckte sie ihn und half ihm mit einem Ruck hoch. Mit einem feixenden Grinsen beobachtete sie, wie er sein Bein befreite. Hinter ihr leuchteten Katzenaugen unter einem Tisch.
    »Ich dachte, Haustiere wären ausgestorben«, sagte Jay verärgert.
    »Hunde ja, aber in den Hochhäusern leben viele Katzen. Stell dir vor, die meisten haben ihre Ebene noch nie verlassen. Es gibt hier oben genug Beute für sie – Vögel und Mäuse, Eichhörnchen und im Sommer Eidechsen und Schlangen. Bleib bei mir, der Boden ist brüchig.«
    »Ach wirklich? Danke, dass du es mir jetzt sagst!«
    Sie verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und balancierte dann ohne hinzusehen auf einem schmalen Stahlträger bis zu einer Fensterfront, die längst nicht mehr verglast war.
    Schwindel ergriff Jay, als er nach unten sah. Der Boden bestand nur noch aus Balken und Stahlstreben, an denen die Reste von Beton hingen – und ein paar Fetzen, die vielleicht einmal Teppichboden gewesen sein mochten. Minustemperaturen im Winter und Feuchtigkeit hatten den Boden offenbar geradezu weggesprengt.

Weitere Kostenlose Bücher