Zweilicht
Strahlen und Leute, die im Fernsehen aus den Karten lasen. Aber auch wenn er ein Federband trug und Ivy Glasperlen, spürte er doch, dass das hier etwas völlig anderes war. Etwas wie ein kalter Atem, den er auch jetzt im Genick spürte.
»Columbus sagte mir, wir seien schuld daran, dass unsere Welt unterging.«
»Es geht nicht um Schuld, Jay«, sagte Ivy leichthin. »Ihr hattet einfach vergessen, dass es die magischen Wesen immer noch gab, für euch existierten sie nicht länger. Aber ein Feind, den man verleugnet oder nicht beachtet, kann im Verborgenen immer stärker werden.«
»Der Verschlinger?«
Ein Schatten fiel auf ihre Miene, die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. Gedankenverloren schien sie in ihren eigenen Erinnerungen zu treiben. Offensichtlich waren es keine guten. Gerne hätte er sie danach gefragt, aber er wagte es nicht, so ablehnend wirkte sie plötzlich wieder.
»Ja, der Verschlinger«, antwortete sie schließlich. »Weil ihr seine Existenz nicht wahrhaben wolltet, konnte er sich unbemerkt aus den Meeren erheben, aus den Bergen und dem Eis und so hat er das Schicksal der Menschen besiegelt.« Sie holte tief Luft. »Die Märchen und Mythen erkannten die Gefahr in jeder Gestalt – ob als Weltzerstörer Aghora Rudra, als Fenriswolf, der darauf wartet, Odin zu verschlingen, oder in Gestalt der Dämonen und Monster aus den Heldensagen der alten Welt. Er trägt viele Namen. Es gibt keinen Ort, an dem wir uns ganz vor ihm verbergen können. Aber wir überleben.«
Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
»Bist du schon lange ein Trickster?«
»Oh ja. Seit ich ein Kind war. Bist du schon lange so neugierig?«
»Darf ich nicht fragen? Ich kenne dich fast gar nicht und …«
Erst als er ihr leises Lachen hörte, wurde ihm klar, dass sie ihn aufzog. Es verblüffte ihn immer noch, wie schnell alles Düstere in ihrem Wesen verfliegen konnte und nur noch Platz für Sonnenlicht ließ.
»Ich war fünf Jahre alt, als ich gemerkt habe, dass ich mehr sehe als die anderen aus meinem Clan«, erzählte sie. »Aber ich bin auch neugierig. Was vermisst du? An deiner Welt, meine ich. Wonach sehnst du dich gerade jetzt in diesem Moment? Nach … wie hast du gesagt … Zirkusratten? Und Ampeln?«
Jetzt konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ganz ehrlich?«, erwiderte er dann. »Filme. Es klingt vielleicht blöd, aber wenn ich mich nachts von dem Gedankenkarussell ablenken will, versuche ich, mich an alle Filme zu erinnern, die ich je gesehen habe. Aber du weißt ja gar nicht, was ein Film ist, stimmt’s?«
Ivy zog bedauernd den linken Mundwinkel hoch und schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was ein Karussell ist.« Es klang verzagt, als würde sie es bedauern. »Wir haben wirklich nicht viel gemeinsam, was?« Sie errötete leicht und blickte rasch weg.
Zumindest hättest du sicher dieselben Filme gemocht wie ich. Die Idee blitzte in seinem Hinterkopf gleichzeitig mit der passenden Filmsequenz auf.
»Vielleicht haben wir mehr gemeinsam, als du denkst. Filme sind auch nur so etwas wie Märchengeschichten, mit Helden und Ungeheuern, Abenteuern und Kämpfen. Nur werden sie mithilfe von Bildern erzählt. Aber die kannst du dir auch vorstellen.« Er rückte ein wenig näher an sie heran und deutete auf die Ruine des Empire State Building. »Schau dir den Turm da drüben an. Früher war es eines der höchsten Gebäude der Stadt und …«
»Der Turm, der leuchtet? Mit der langen Spitze obendrauf?«
Sie lächelte triumphierend, als sie bemerkte, wie verblüfft er war.
»Trickster, schon vergessen?«, sagte sie verschmitzt. »Ich sehe mehr als andere. Und der Turm ist auch ein Gespenst der Stadt. Im manchen Herbstnächten leuchtet er für mich so rot wie ein Feuer.«
Wolken spiegelten sich in ihren Augen. Im Sonnenlicht wirkte das dunkle Braun weich und fast ein wenig kastanienrot. Als sie einander zulächelten, entspann sich zwischen ihnen eine Nähe, die ganz anders war als die zwischen ihm und Madison. Ein Gleichklang, eine Zuneigung, und der Wunsch, sie lachen zu sehen. Aber dann blinzelte Ivy irritiert und zuckte regelrecht zurück.
»Gut«, sagte Jay und räusperte sich. »Dann haben wir dasselbe Bild. Eine Filmgeschichte endet nämlich genau dort, auf diesem Turm. Sie handelt auch von einer Expedition – und außerdem von einem Liebespaar und einem Ungeheuer.«
»Ein Ungeheuer?« Jetzt war sie Feuer und Flamme. »Wie sieht es aus?«
Er holte Luft und begann zu erzählen. Szene für
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