Zweilicht
geahnt?
»Komisch, dass er die Schläfer in Ruhe lässt«, murmelte er.
»Wahrscheinlich hatten du und Dornröschen bisher einfach nur Glück«, erwiderte Columbus. »Vielleicht hat er sich bisher an anderen Schläfern gelabt. Keiner weiß, wie viele noch unauffindbar unter den Trümmern und in den Ruinen liegen.«
»Sucht ihr sie nicht?«
»Nein, wozu? Wenn wir einen von euch zufällig entdecken, nehmen wir ihn mit. Aber alles andere wäre verschwendete Zeit und Kraft. Außerdem können wir sie ohnehin nicht wecken.«
Nein, aber Madison konnte es .
»Was ist mit den Dienern? Welche Rolle spielen sie?«
»Wendigo lässt sie hier als Wächter zurück, wenn er im Sommer nach Norden wandert. Sie bewachen die leeren Städte, bis er zurückkehrt, kein Mensch soll sie betreten. Aber wir haben gute Trickster. Ivy ist eine der besten.«
Jay griff nach seinem Amulett, betrachtete gedankenverloren den Kojotenkopf. So was wie ein Team . Ob das Wesen, das die Rolle seines Cousins gespielt hatte, ehrlich gewesen war? Immerhin hat er Madison nicht verraten, dass ich ein Mädchen namens Ivy gesehen habe. Und er hat uns bei der Flucht geholfen.
»Du kannst froh sein, dass Ivy dich entdeckt hat«, sagte Columbus. »Sie hat viel riskiert, um dich da rauszuholen. Dem Mädchen muss verdammt viel an deinem Leben liegen.«
Er wusste nicht warum, aber zum ersten Mal fühlte er sich weniger verloren.
»Ja«, sagte er leise. »Sie hat viel für mich riskiert.«
»Tja, wir sind nicht hier, um zu reden, dafür haben wir im Lager noch mehr Zeit, als uns lieb sein wird«, sagte Columbus und hielt ihm die Waffe hin. »Hier, damit kommst du besser durch die Sträucher, da, wo wir hingehen, ist es ziemlich verwildert. Und ich weiß ja nicht, wie es in deiner Zeit war, aber bei uns bist du ein erwachsener Mann. Du bist ebenso verantwortlich für unser Überleben wie ich und jeder andere von uns. Also denk an Faye und ihre Kinder und all die anderen Menschen …«
»Faye hat Kinder?«
»Meine Güte, redest du überhaupt mit uns? Sie hat zwei Töchter – im dritten und vierten Winter. Was meinst du, warum sie sich so nach der Kolonie sehnt und kaum eine Nacht mehr schläft?«
Jay senkte den Blick und betrachtete nachdenklich den staubigen Boden. Zum ersten Mal wurde ihm wirklich bewusst, dass es auf der anderen Seite des Flusses eine Welt gab, die sich vielleicht gar nicht so sehr von der seinen unterschied. Familien mit Kindern, Geschwister, Freunde, Liebespaare und sicher auch Feinde. Für einen Moment lag ihm die Frage auf der Zunge, ob dort auch jemand auf Ivy wartete.
»Wir sind jetzt dein Clan«, sagte Columbus mit Nachdruck. »Und du musst alles dafür tun, dass wir Wendigos Jagdzeit heil überstehen. Verstanden?«
Jay holte tief Luft. Einen Moment zögerte er noch, doch dann nickte er und nahm den Säbel an sich.
*
Columbus lief so flink voraus, dass Jay kaum Zeit hatte, sich umzusehen. Der Pfad war schmal und mit magischen Zeichen gesichert. Elsterfedern, zerbrochene Armbanduhren und andere Gegenstände hingen an den Ranken und den Zweigen von Bäumen, von denen manche direkt aus den Häusern wuchsen. Im peitschenden Regen und dem scharfen Wind, der in den schmalen Schluchten pfiff, sahen die Bäume aus, als würden sie Jay warnend zuwinken. Columbus führte ihn in Richtung Broadway. Der Zugang zu einem Gebäude war vollkommen mit dornigen Brombeerranken zugewuchert. Ein Königreich für ein Laserschwert , dachte Jay. Dann holte er mit dem Säbel aus und begann damit, wie mit einer Machete eine breitere Schneise zum Eingang freizuhacken. Das umrankte Haus war einmal ein Laden gewesen. Über einer zugewucherten Brüstung hing etwas, das früher eine Schaufensterpuppe gewesen war und jetzt ein gutes Requisit für einen Zombiefilm abgegeben hätte.
Es war gespenstisch, den Verkaufsraum im Inneren des Gebäudes zu betreten. Hier kamen Wind und Regen nicht hin, kaum ein Regal war verrottet, und überall stapelten sich eingepackte Waren. Die Kartons waren zwar längst verschimmelt und abgefallen, aber die Plastikverpackungen schützten die Dinge immer noch. Als Columbus die verstaubten, knisternden Schichten zerschnitt, glänzte Metall auf. Jay gab es einen wehmütigen Stich, als er die Kochtöpfe sah. Ein Strom von Eindrücken überwältigte ihn. Charlies Katastrophenspaghetti , Abendessen mit Fertigsuppen, Gespräche am Esstisch, über den Topfrand hinweg, Charlies Lachen, Glühwein zu Weihnachten, zischendes Blei in den
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