Zweilicht
Das war etwas ganz anderes, als auf Matts Dach herumzuklettern. Ein falscher Schritt und ich falle dreißig Stockwerke tief!
»Kommst du?«, rief Ivy herausfordernd von der anderen Seite.
»Seh ich aus wie eine Zirkusratte?«
»Zirkus? Was ist das denn schon wieder?« Sie lachte, dann kam sie mit ein paar flinken Sprüngen zu ihm zurück und streckte ihm vom Balken, der sich neben ihm befand, die Hand hin. »Schau nicht nach unten, ich führe dich.«
»Das schaffe ich allein.«
»Ach ja? Mutig genug, um abzustürzen, aber zu feige, um meine Hand zu nehmen?«
Ein paar Sekunden kämpfte er noch gegen seinen Stolz an, aber dann ergriff er ihre Hand. Wie immer war sie kühl, und die Berührung rief wieder die Irritation in ihm wach, das Herzklopfen und einen kleinen heißen Schauer in seiner Brust. Nimm dich zusammen, Mann! , schalt er sich. Dann balancierte er konzentriert und mit angehaltenem Atem über den Abgrund.
Bei einem der Panoramafenster war noch eine Betoninsel vorhanden, darauf machte Ivy es sich bequem und ließ die Beine einfach nach draußen baumeln. Jay war froh, sich hinsetzen zu können, auch wenn er sich immer noch so fühlte, als würde er auf einer Falltür sitzen, die jeden Moment nachgeben konnte.
Ivy dagegen lehnte sich ganz entspannt auf den Armen zurück und schloss die Augen. In den Schluchten war es schattig gewesen, hier aber fiel die schräge Nachmittagssonne ihr direkt ins Gesicht.
»Das ist mein Lieblingsplatz. Im Sommer hört man hier die Frösche. Ihr Quaken hallt in den Häuserschluchten wider.« Sie sog die Luft aus vollen Zügen ein. »Das vermisse ich immer am meisten«, sagte sie wehmütig. »Die Luft und die Weite. Den Himmel! Und die Sonne.«
Jetzt verstand er, warum sie gezögert hatte, ihn mitzunehmen. Es war ihr geheimer Platz. Hier nahm sie Abschied von der Sonne, bevor das Winterlager wie eine Falle über ihr zuschnappte.
Deshalb hat sie so blasse Haut . Im Winter sieht sie kein Tageslicht – und im Sommer bewegt sie sich meistens in den Häuserschluchten und verbirgt sich im Schatten. Nun fühlte er sich wie ein Eindringling, der ihr diese kostbaren letzten Momente stahl. Aber trotzdem hat sie mich hierhergeführt.
Mit einer nervösen Scheu musterte er Ivy von der Seite. Bisher war ihm die feine Linie zwischen den Brauen nicht aufgefallen, die sich vertiefte, wenn sie zornig war. Ein Schatten von Sorge und vergangenem Leid. Er fragte sich, wie er sie jemals für eine Elfe hatte halten können. Sie war alles andere als das. Neben ihm saß ein Mädchen, das viel durchgemacht hatte, ein mutige junge Frau, die ihr Leben für ihn aufs Spiel gesetzt hatte. Er dachte an ihren Kuss am Ufer des Flusses. Und wieder fiel ihm auf, dass er sie schön fand, auf eine Weise, die tief in ihm etwas berührte und zum Klingen brachte.
Was soll das? , dachte er verwirrt. Du träumst immer noch von Madison und trauerst um deine Familie. Und trotzdem war es in ihrer Nähe plötzlich ganz leicht, all die Bilder zu verdrängen, die ihn nachts heimsuchten.
»Wann werden sie uns mit den Booten abholen?«
»Wenn wir Glück haben, morgen früh. Die Späher haben das Zeichen gesetzt, aber das Lager ist weit entfernt.«
»Freust du dich darauf, die Kolonie wiederzusehen? Deine … Eltern?«
»Ach, die sind schon lange tot. Als ich noch klein war, gab es ein Fieber in der Kolonie.«
Ihr unbekümmerter Tonfall verschlug ihm die Sprache. »Bist du nicht unglücklich deswegen?«
Sie lachte leise. »In deiner Zeit war es so, nicht wahr? Ihr habt euch für alles sehr viel Zeit gelassen – für Entscheidungen, für die Liebe und auch für die Trauer. Nein, ich bin nicht traurig. Es ist, wie es ist. Wir wissen, dass Tod und Leben keine verschiedenen Kontinente sind, sondern nur verschiedene Elemente wie Wasser und Land. Im Licht der Magie geht niemand ganz verloren. Auch deine Mutter nicht. Aber es quält dich trotzdem, nicht wahr?«
Als sie die Augen öffnete, sah Jay rasch weg und betrachtete stattdessen mit klopfendem Herzen die Stadt. Er suchte das Empire State Building und fand nur noch ein Stück Ruine.
»In der Nacht, ja«, gab er schließlich zu. »Dann frage ich mich oft, ob sie vielleicht versucht hat, mich zu erreichen, während Deutschland schon unterging. Ständig frage ich mich, ob sie Angst hatte oder ob sie einfach eingeschlafen ist.«
Ivy antwortete nichts, und er war ihr dankbar dafür, dass sie nicht versuchte, hohle Trostworte zu finden. Ihr Schweigen war so ehrlich,
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