Zweyer, Jan - Rainer
Brischinsky die Akte zu.
»Das wäre es für heute. Schicht. Dann warten wir mal ab, wie morgen so die Resonanz auf die Zeitungsartikel ist.
Möglicherweise erfahren wir endlich auch, wo Pawlitsch zwischen fünf und halb acht war. Oder mit wem er sich getroffen hat.«
20
Sein Telefon läutete. Rainer nahm ab. Es war sein Freund Cengiz Kaya. »Tag, Rainer. Hast du heute schon Zeitung gelesen?«
»Heute Morgen schon, klar. Wenn du auf den Artikel über Pawlitsch in der WAZ anspielst, steht ja nichts Neues drin. Mit Ausnahme des Fotos des Toten und der Bitte der Kripo um Mithilfe natürlich.«
»Nee, nicht die WAZ.«
»Sondern?«
»Die Bild.«
»Lese ich nicht.«
»Solltest du aber. Du wirst namentlich erwähnt.«
»Ich werde was? Das kann doch wohl nicht wahr sein. Woher haben die meinen Namen? Was steht denn drin?«
»Inhaltlich Ähnliches wie in der WAZ. Dass Pawlitsch gegen sechzehn. Uhr seine Wohnung verlassen hat, aber erst gegen halb acht zu einer Verabredung in Recklinghausen erschienen ist und die Polizei die Bevölkerung um Mithilfe bittet, den Verbleib des Opfers während dieser Stunden zu klären. Auch mit Bild von Pawlitsch. Nur etwas reißerischer.«
»Wie reißerisch?«
»Warte, ich les dir’s vor: Wie vom Erdboden verschluckt! Wo war Georg Pawlitsch (64) am frühen Abend vor seinem Tod?
Dreieinhalb ungeklärte Stunden. Traf er seinen Mörder? Das war die Überschrift und das fett Gedruckte darunter. Dann geht es weiter: Die Polizei bat Bild um Hilfe. Sie fragt: Wer hat den Ermordeten (Bild links) in der fraglichen Zeit …«
»Danke, das reicht. Und was ist mit mir?«
»Du tauchst am Schluss auf: Der Anwalt der Familie, Rainer Esch aus Herne, sagte unserer Zeitung… «
»Ich hab mit denen doch gar nicht gesprochen«, warf Rainer empört ein.
»Verklag sie. Du hast jedenfalls laut Bild gesagt: ›Wenn wir wissen, wo Georg Pawlitsch war, wissen wir vielleicht auch, warum er sterben musste.‹ So steht’s da.«
»Schwachsinn. Ich wusste bis heute Morgen noch nicht mal, dass der für drei Stunden verschwunden war. Stand nicht in der Ermittlungsakte.«
»Dein Problem. Sehen wir uns später?«
»Wenn ich hier fertig bin, komme ich bei dir vorbei.«
»Bitte vor neun. Ich muss zur Schicht.«
»Weiß ich.«
»Bis dann.« Cengiz legte auf.
Der Anwalt sah auf die Uhr. Kurz vor sechs. Er griff erneut zum Hörer und wählte die Telefonnummer von Elke Schlüter.
»Hallo«, sagte er, als sie sich meldete.
»Ach, Rainer. Nett, dass du anrufst.«
Esch hörte ihre Stimme und er vergaß schlagartig, was er ihr hatte sagen wollen.
»Rainer? Bist du noch dran?«, fragte Elke nach beiderseitigem kurzem Schweigen leicht verwundert.
»Hm.« Er war hin und weg.
»Entschuldige, wenn ich dich so direkt frage.« Der leicht spöttische Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Warum hast du angerufen?«
»Warum ich angerufen habe…?«
»Ja.«
»Weil… weil… ich wollte deine Stimme hören.« Was für ein Schwachsinn, dachte er. Aber doch die reine Wahrheit.
Erneutes Schweigen.
Dann platzte es aus ihm heraus: »Ich möchte dich sehen. Hast du Zeit?«
»Wann? Jetzt?«
»Jetzt, gleich, später. Wann du willst. Am liebsten sofort.«
Ihre Antwort ließ etwas auf sich warten. Sie überlegte. Sie überlegte lange, viel zu lange, fand Rainer.
Nach knapp zehn Sekunden sagte sie: »Gut. Komm vorbei.
Ich wohne in Recklinghausen, Ostseestraße 12. Das ist am Quellberg. Weißt du, wo…«
»Kein Problem«, jubilierte er, »ich finde das. Ich bin schon unterwegs. Bis gleich.«
Er brach das Gespräch sofort ab, schnappte sich seine Lederjacke, ließ das Handy liegen und stürmte aus seiner Praxis; ohne das Licht zu löschen und abzuschließen. Weiter unten an der Castroper Straße erstand er einen großen Blumenstrauß und bretterte dann, jede
Geschwindigkeitsbegrenzung ignorierend, zum Quellberg, der Neubausiedlung südöstlich der Recklinghäuser Innenstadt.
Das Haus Nummer 12 war eines der für diese Gegend typischen Mehrfamilienhäuser, die meist
Eigentumswohnungen beherbergten.
Elke Schlüter wohnte im dritten Stock. Als sie Rainer die Tür öffnete, blieb ihm fast das Herz stehen. Elke trug schwarze, eng sitzende Jeans, eine schwarze Seidenbluse, deren obere zwei Knöpfe geöffnet waren, und schwarze Ledermokassins.
Ihr Haar war mit einem einfachen Gummi
zusammengebunden. Sie hatte das gleiche Parfüm wie bei ihrer ersten Begegnung im Polizeipräsidium
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