Zweyer, Jan - Rainer
darfst mich nicht verlassen, das geht nicht.«
Ihr blieb die Luft weg. Mit der rechten Hand versuchte sie, die Umklammerung zu durchbrechen, ihre linke ruderte auf der Suche nach etwas, das sie als Waffe benutzen konnte, durch die Luft. Sie röchelte heiser, als er den Druck verstärkte.
»Ich lass dich nicht gehen.«
Mit der Kraft der Verzweiflung schlug sie ihm wieder und wieder ins Gesicht. Ihre Fingernägel hinterließen blutige Kratzspuren auf seiner Stirn.
»Du darfst mich nicht verlassen… Du musst bei mir bleiben!«
Der Körper der Frau erschlaffte.
»Du musst bei mir bleiben!«
Erst Minuten später lockerte er seinen Griff. Verblüfft sah er, wie die tote Frau langsam an der Wand hinunter auf den Boden rutschte. Sein Mund blieb vor Erstaunen und Erschrecken offen. Mit dem Handrücken wischte er sich das Blut aus dem Gesicht, blickte auf die roten Spuren auf seiner Linken und fiel auf die Knie, als würde ihm erst jetzt klar, was geschehen war.
»Das, das habe ich nicht gewollt«, stammelte er entsetzt.
»Das habe ich nicht gewollt.«
Er stierte auf die vor ihm liegende Tote. Nach einigen Minuten hob er sie hoch und bettete sie auf eine Liege. Unter ihren Kopf schob er ein Kissen und bedeckte sie mit einer Wolldecke. Ihr blondes, langes Haar floss auf das Sofa. Auch im Tod war ihr Gesicht noch wunderschön. Dann streichelte er zärtlich über ihre Wangen. Tränen liefen über sein Gesicht.
Warum hatte sie ihm das angetan?
Schließlich zog er die Decke langsam über ihre verkrampften Züge, setzte sich in einen Sessel und wartete.
Die junge Frau stellte ihr Weinglas auf den Couchtisch und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann stand sie seufzend auf, schaltete das Fernsehgerät aus und öffnete die Terrassentür. Sie blieb an der Tür stehen und genoss die feuchtkalte Luft, die vom Meer heraufzog, bis sie fröstelte. Die Frau ging zurück ins Haus, stieg die Treppe nach oben und betrat das Badezimmer.
Zehn Minuten später hatte sie ihre Abendtoilette beendet. Sie wollte gerade zum Lichtschalter greifen, als die Beleuchtung ohne ihr Zutun ausging. Ihr Herz schlug schneller. Sie atmete einige Male tief durch und versuchte so, die aufkommende Panik zu verscheuchen.
»Ein Stromausfall«, murmelte sie leise, während sie sich durch den dunklen Flur zur Treppe tastete. »Nur ein Stromausfall. Das kommt vor.«
Durch ein Fenster schaute die Frau auf das Nachbarhaus. Es war hell erleuchtet. Sie schüttelte verwundert den Kopf. Dann kam ihr ein Gedanke: die Hauptsicherung, natürlich!
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, so dass sie ihre Umgebung schemenhaft erkennen konnte.
Vorsichtig stieg sie die Treppe hinab. Auch im Erdgeschoss funktionierte das Licht nicht.
Aus dem Wohnzimmer blies ihr ein eiskalter Hauch entgegen. Der Wind hatte die Terrassentür weit aufgedrückt.
Die Vorhänge flatterten gespenstisch. Sie schloss die Tür und versuchte sich an den genauen Standort des Sicherungskastens zu erinnern. Die Frau griff zu ihrem Einwegfeuerzeug, das auf dem Tisch lag. Ein kümmerliches Flämmchen warf einen trüben Lichtschein. Sicher hatten ihre Eltern Kerzen im Haus, aber wo? Die Flamme des Feuerzeuges erlosch. Hektisch drehte die Frau am Zündrad.
Ein leises Knarren im Flur ließ sie erschaudern. Sie fuhr herum und starrte auf die dunkle Türhöhle. Sie sah nichts.
Endlich brannte das Feuerzeug wieder. Zitternd streckte die Frau ihren rechten Arm mit dem funzeligen Licht in die Höhe und machte einen langsamen Schritt nach vorn. Es knarrte wieder. Die Panik kehrte zurück. Die Frau zwang sich erneut zur Ruhe. Jetzt wusste sie, woher das Geräusch stammte.
Erleichtert atmete sie auf. Der Deckel des Briefkastenschlitzes in der Eingangstür saß seit einigen Tagen locker und bewegte sich im Wind.
Dann nahm sie eine Bewegung hinter sich wahr. Ehe sie reagieren konnte, wurde ihr Kopf brutal nach hinten gerissen.
Ihr Hals straffte sich. Sie sah, dass etwas den flackernden Lichtschein des Feuerzeuges reflektierte. Etwas Blitzendes, Metallisches. Etwas Scharfes.
1
»Na, was halten Sie von meinem Vorschlag?«
Der Mann platzierte seine rechte Hand auf dem Schreibtisch, beugte seinen Oberkörper etwas vor und sah mit stechenden Augen hoch. In seinem linken Ohrläppchen funkelte ein Brilli.
Er trug einen perfekt sitzenden anthrazitgrauen Zweireiher italienischen Zuschnitts, dazu ein weißes Hemd und eine dunkelgraue Krawatte mit roten Punkten. Seine breiten
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