Zweyer, Jan - Rainer Esch 01
vorbei. Sie würde Klaus anrufen und ihm die Geschichte erzählen, und er würde sie wieder scherzhaft wegen ihrer Sucht nach Kriminalromanen schelten, die solche Alpträume verursachen würden, und sie würde…
Sie öffnete die Augen. Nein, das war kein Traum. Da lag die Visitenkarte des Polizisten. Klaus war tot. Dann fiel ihr Rainer ein. Sie mußte Rainer anrufen. Rainer konnte ihr helfen, mit dem Schmerz fertig zu werden.
Sie nahm den Hörer ab und wählte seine Nummer. Sie ließ es so lange klingeln, bis das Besetztzeichen ertönte. Frustriert und mit Tränen in den Augen legte sie auf. Natürlich, nach der Klausur, Rainer wollte sicher nicht gestört werden. Dann erinnerte sie sich an ihren Code. Sie wählte erneut, ließ es genau dreimal klingeln und legte auf. Dann rief sie wieder an, in der Erwartung, Rainers Stimme zu hören. Nichts.
Sie war enttäuscht und auch wütend. Ihr Blick fiel auf die blinkende Anzeige des Anrufbeantworters, den sie sofort abhörte.
Piep. »Guten Tag, Frau Westhoff, hier ist Müller von der Sparkasse Recklinghausen. Wir sind Ihrer Beschwerde bezüglich Ihrer Euroscheckkarte nachgegangen. Sie können Ihre neue EC-Karte ab sofort in Ihrer Zweigstelle abholen.
Vielen Dank.«
Piep. »Hallo, hier ist Carola. Wenn du dich an diesem Wochenende für ein paar Stunden von deinem Traummann trennen kannst, ruf mich doch mal zurück. Tschüs.«
Piep. »Ich bin’s. Die Klausur ist mit ziemlicher Sicherheit im Eimer. Hat sich Klaus eigentlich bei dir gemeldet? Ich bin bis neun beim Griechen, danach im Drübbelken. Bitte komm vorbei, ich würde dich gerne sehen. Bis dann, mein Schatz.«
Piep.
Als Rainer den Namen ihres Bruders erwähnte, mußte Stefanie wieder weinen.
Einige Minuten später suchte sie im Telefonbuch die Nummer des Mykonos heraus und rief dort an.
»Restaurant Mykonos, guten Abend.«
»Guten Abend. Bei Ihnen müßte ein Rainer Esch sein.
Könnte ich den mal bitte sprechen?«
»Einen Moment, bitte.«
Sie hörte die Hintergrundgeräusche des Lokals: Stimmengewirr, griechische Musik, das Klappern von Geschirr. Die Wartezeit kam ihr ewig vor.
»Esch.«
»Rainer, Gott sei Dank. Bitte, du mußt sofort zu mir kommen, bitte sofort.« Ihr Hals war wie zugeschnürt, sie konnte am Telefon nicht über ihren Bruder sprechen.
»Stefanie, ich hab gerade mein Essen bekommen und einen Bärenkohldampf. Ich zieh mir das rein und komm dann, einverstanden?«
Sie flehte ihn an. »Bitte Rainer, wenn du mich liebst, dann kommst du sofort.«
Ihr Freund überlegte einen Moment. »Ich opfere für dich einen Grillteller. Dafür lädst du mich aber demnächst ein.«
»Bitte komm schnell.«
»Gut. Bis gleich.«
Rainer legte auf, bestellte ein Taxi und machte dem erstaunten Kellner beim Bezahlen klar, daß sein plötzlicher Aufbruch nichts mit der Qualität der Küche zu tun hatte, sondern vielmehr mit der Psyche von Frauen im allgemeinen und der seiner Stefanie im besonderen. Den Versuch, diese zu verstehen, habe er schon vor langer Zeit aufgegeben, und manchmal sei es im Interesse des eigenen Seelenheils schlicht besser, so erklärte er, einfach das zu tun, was die Frauen von Männern so verlangen würden, auch wenn sich dieses üblicher, allgemein anerkannter Logik vollständig entzöge. Der Kellner nickte ihm verständnisvoll zu und servierte Esch mitleidig blickend einen doppelten Ouzo. Esch schloß daraus, daß ihn nicht nur der Kellner, sondern wahrscheinlich jeder Mann südlich der Alpen ob seiner Handlung für vollständig verrückt halten würde.
Rainer kippte den Ouzo runter und verließ das Lokal in dem Moment, als das Taxi vorfuhr. Er öffnete die Tür und stieg ein.
»Hallo, Esch. Heute nicht Kutscher, sondern zahlender Gast?« Rainer kannte den Fahrer. Betriebswirtschaft im 25.
Semester oder so. Aushilfsfahrer wie er.
»Theo, grüß dich. Wieso zahlender Gast? Für mich kannst du doch mal ‘ne Platte machen.«
»Geht leider nicht, Kumpel. Die Karre hier hat schon Sitzkontakte.« Der Fahrer grinste. »Und da du da ja schon draufsitzt, war’s das dann. Wohin?«
»Scheiße. Hochlarmark. Westfalenstraße. Sag dir Bescheid.«
Stefanie Westhoff stand hinter dem Fenster, als das Taxi mit ihrem Freund hielt. Sie beobachtete, wie Rainer ausstieg und zur Haustür ging. Bevor er schellen konnte, drückte sie den Türöffner, bis sie hörte, daß die Haustür aufgedrückt wurde.
Sie öffnete die Wohnungstür und fiel ihrem Freund sofort in die Arme.
»Gott sei
Weitere Kostenlose Bücher