Zweyer, Jan - Rainer Esch 02
Bedürfnisse vorgesehene Raum war vom Vorraum mit den Waschbecken und den mit Papierhandtüchern überquellenden Abfalleimern durch eine Klapptür getrennt. Esch stieß mit dem linken Fuß die Klapptür auf.
Rallinski war allein im Raum. Er wippte vor einem Pissoir auf und ab und nestelte hektisch an seiner Hose. Seinen Aktenkoffer hatte er neben sich auf den Boden gestellt. Nach einigen Sekunden hörte Esch ein leises Plätschern. Er musterte Rallinski. Der stand da, den Oberkörper etwas nach vorne gebeugt, die Beine leicht gespreizt, die linke Hand verhinderte, dass die Unterhose dem Strahl in die Quere kam, die rechte erfüllte die Funktion der Führungshand; Rallinski erledigte sein Geschäft mit halb geschlossenen Augen und einem leicht debilen Lächeln. Er würdigte Esch keines Blickes.
Esch betrachtete den Aktenkoffer. Ihm fielen Carolas Worte wieder ein: »Und dann der Tick vom Rallinski mit seinen Akten. Der packt abends immer Akten in die Tasche und bringt sie morgens wieder mit.«
Rainer fixierte erneut den Aktenkoffer. Den glückselig pinkelnden Rallinski. Und dann machte der Recklinghäuser etwas, worüber er sich noch später wundern sollte. Er näherte sich dem Pissoir neben Rallinski und schnappte sich die Aktentasche. Ehe Rallinski realisierte, was geschehen war, stürmte Esch schon durch die Klapptür hinaus.
»Heh, Sie, bleiben Sie stehen, sofort«, empörte sich Rallinski nach einer Schrecksekunde. Und nur Momente später schrie er:
»Hilfe, Diebe. Haltet den Dieb. Hilfe, Hilfe.«
Intuitiv versuchte er, Esch zu folgen. Hätte er nur etwas nachgedacht, wäre ihm klar geworden, dass das im wahrsten Sinne des Wortes gründlich in die Hose gehen musste. Zwar war sein Wille, die Aktentasche wiederzubekommen sehr ausgeprägt, doch nicht ausgeprägt genug, um die Bereiche seines Gehirnes, welche die körpereigenen Funktionen kontrollierten, zu steuern. Was wiederum dazu führte, dass er, trotz rascher Drehbewegung und einiger Schritte in Richtung Klapptür, weiter urinierte und zunächst seinen rechten Schuh, dann das untere Ende seines linken Hosenbeins durchnässte.
Schimpfend und um Hilfe brüllend, wandte Rallinskis ich wieder dem Pissoir zu, das er nun nicht mehr brauchte. Als es ihm endlich gelungen war, alles ordnungsgemäß zu verpacken, hatte Esch bereits den Vorraum der Toilette verlassen.
Rainer stürmte die Treppe hoch Richtung S-Bahn, ohne sich vorher zu orientieren. Und er hatte Glück. Auf dem Bahnsteig stand wartend eine Bahn, die sich, unmittelbar nachdem er einen Waggon betreten hatte, in Bewegung setzte. Gehetzt sah er aus dem Fenster, konnte aber weder Rallinski noch andere Verfolger erkennen. Wie es aussah, hatte er zum ersten Mal in seinem Leben erfolgreich einen Diebstahl durchgeführt, wenn man von den Indianerfiguren bei Karstadt vor fünfundzwanzig Jahren absah. Ganz wohl fühlte er sich trotzdem nicht in seiner Haut. Diebstahl blieb Diebstahl.
Schwer atmend lehnte sich Esch zurück. Er hatte die Tasche geklaut, ohne zu wissen, warum. Er war einem Impuls gefolgt, planlos und spontan. Eigentlich gar nicht sein Ding.
Nach einigen Minuten erreichte der Zug die übernächste Station: Alexanderplatz. Rainer beschloss auszusteigen. Er hatte keinen Fahrschein und seiner Meinung nach das Glück für einen Tag schon genug herausgefordert.
Er nahm ein Taxi, um zu seiner Pension zu fahren. Er widerstand der Versuchung, schon im Wagen einen Blick in die Tasche zu werfen.
In seinem Zimmer versuchte Rainer vergeblich, die Klappschlösser des Samsonitekoffers zu öffnen. Esch fiel ein, dass die Erzeugerfirma früher damit geworben hatte, dass ihre Produkte jedem unrechtmäßigen Zugriff standhalten würden.
Ein Koffer konnte als Schlitten benutzt, von Elefanten als Sitzkissen missbraucht oder als Amboss eingesetzt werden, ohne Schlüssel war er jedoch nicht zu öffnen. Behauptete die Werbung. Eschs sportlicher Ehrgeiz war geweckt. Zwischen Werbeaussage und Realität, davon war er ohnehin überzeugt, klafften Welten. Er oder der Koffer…
Anfangs noch recht gelassen, suchte er nach Dingen, die als Dietrich in Frage kamen. Die Nagelfeile passte nicht in das kleine Schloss. Der Korkenzieher vom Schweizermesser brach beim ersten Versuch ab. Die anderen diversen Werkzeuge dieses ansonsten recht praktischen Utensils waren ebenfalls unbrauchbar. Der Versuch, aus dem Haken eines Kleiderbügels ein geeignetes Hilfsmittel zu biegen, scheiterte kläglich. Einen anderen Draht fand
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