Zweyer, Jan - Rainer Esch 02
Rainer trotz intensiver Suche nicht in seinem Zimmer. Ratlos rüttelte er an den Schlössern, die seinen amateurhaften Aufbruchversuchen mühelos widerstanden. Seine Karriere als Dieb schien daran zu scheitern, dass er unfähig war, das Objekt seiner Begierde zu öffnen.
Fast war er geneigt, Werbefilme künftig mit anderen Augen zu sehen, als ihm seine Nagelschere einfiel. Leicht an der Spitze gebogen, ließ sie sich unkompliziert in das Schloss einführen. Esch stocherte und rührte etwas lustlos herum.
Plötzlich spürte er einen leichten Druck. Er drehte die Schere ein klein wenig nach rechts und mit einem knackenden Geräusch öffnete sich die erste Verriegelung. Ein paar Sekunden später hatte auch Nummer zwei verloren. Gespannt öffnete Esch den Aktenkoffer und sah hinein.
Er war sich nicht ganz sicher, was er nach den Erzählungen Carolas vom Inhalt des Koffers erwartet hatte, aber das, was er auf den ersten Blick sah, hatte er nicht erwartet. Der Koffer war leer, wenn man von einer Butterbrotdose, einem Terminkalender und einer Packung fischermens friend mal absah.
Enttäuscht machte sich Esch daran, die Innentaschen des Koffers zu inspizieren. Nichts. Er öffnete die Dose und stellte fest, dass der angebissene Rest des Brotes mit Nutella bestrichen war. Rainer schüttelte sich. Er hasste Nutella. Wie, so fragte er sich, konnte ein erwachsener Mann einen solchen Brotaufstrich essen?
Er nahm den in schwarzem Leder gebundenen Terminkalender zur Hand und blätterte ihn durch. Auf den ersten Blick erschienen die Eintragungen so, wie Eintragungen in einem Terminplaner eben aussehen. Die Seiten waren voll mit Daten, Kurznotizen und Ähnlichem. Unter dem Datum des 3. Januar stand: 16.00 Besprechung mit Grohlers, am 7. März war der Eintragung zu Folge Rallinski morgens um sieben nach Hannover gefahren, anschließend nach Düsseldorf. Esch blätterte weiter. Unter dem 17. Juli war notiert: GF-Sitzung 14.00, am 18. August: 8.00 Gespräch Grohlers, L.
informieren, einen Tag später: 9.00 L. in D. und am 20.
August: Grohlers in M. L. 20.00 Lager Saganer Str.!!!!.
Esch stutzte. Am 20. August hatte er, wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte, Grohlers zum Hauptbahnhof Recklinghausen gefahren. Warum aber stand dann da, Grohlers sei in M.? Was hieß überhaupt M.? Er dachte nach. Wer oder was war L.? Konnte das Lopitz bedeuten? Und was war das Lager Saganer Str.?
Ihm kam ein Gedanke. Er schnappte sich seinen Stadtplan von Berlin und schlug im alphabetischen Straßenverzeichnis nach. Nach kurzem Suchen hatte er die Saganer Straße gefunden. Sie lag im Stadtteil Lichtenberg im Osten. Esch kam zu der Überzeugung, dass er seine Recherchen in dieser Straße fortsetzen sollte. Vorher hielt er es aber für erforderlich, den Aktenkoffer verschwinden zu lassen.
Esch steckte den Kalender in seine Reisetasche, die Packung fischermens friend fand in einer Hosentasche Platz, der Butterbrotrest und die Dose wurden wieder im Aktenkoffer verstaut, der wiederum im Müllcontainer in der übernächsten Hauseinfahrt landete, um so entweder in der Verbrennungsanlage sein Ende zu finden oder in den Besitz eines Kids auf Trebe oder eines Berbers überzugehen.
Rainer schaute auf seine Uhr. Schon fast fünf. In etwa drei, vier Stunden würde es dunkel. Dann könnte er der Saganer Straße seinen Besuch abstatten. Und die Zeit bis dahin ließe sich durch einen Besuch in einem griechischen Restaurant trefflich überbrücken.
Unvermittelt fiel ihm das heutige Datum ein: Montag. Und der 16. September. Mist! Heute Morgen hätte er eigentlich schon wieder seinen Dienst bei Krawiecke antreten müssen.
Seine kleine Affäre mit Carola und seine kriminalistischen Ambitionen hatten ihn so beschäftigt, dass er diesen Termin völlig verdrängt hatte. Er griff zum Hörer und wählte Krawieckes Nummer.
»Esch«, sagte er, nachdem sich der Firmeninhaber gemeldet hatte.
»Esch, du Arschloch. Wo steckst du? Heute Morgen um acht war Dienstbeginn für dich. Und wo warst du? Nicht da warst du«, brüllte Krawiecke so laut in den Hörer, dass Esch ihn zehn Zentimeter vom Ohr entfernt halten musste. »Morgen früh bist du hier. Um acht. Oder du brauchst erst gar nicht mehr hier anzutreten. Was meinst du, wer du bist, was?«
Esch konnte sich Krawieckes rot angelaufenes Gesicht lebhaft vorstellen. »Hör mal, Hans, morgen geht wirklich nicht. Ich muss…«
»Gar nichts musst du. Hier sein musst du«, schrie Krawiecke.
»Hans, lass dir doch
Weitere Kostenlose Bücher