Zweyer, Jan - Rainer
Wir wissen ja schließlich noch nicht einmal definitiv, ob dieser Mühlenkamp ermordet oder einfach nur vom plötzlichen Herztod überrascht wurde. Solange wir keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden haben, gehen wir von einem natürlichen Tod aus. Reine Routine.«
Heiner Baumann schrumpfte wieder auf Normalmaß. Ein Routinefall. So bewertete sein Chef also diese Sache. Aber da war noch etwas anderes. »Was ist los, Rüdiger?«
Der Hauptkommissar sah an ihm vorbei ins Leere. Dann brach es aus ihm heraus: »Das ist einfach alles zum Kotzen.«
Er sprang auf, verzog vor Schmerzen das Gesicht und hinkte wortlos zur Tür.
Fünf Minuten später kehrte er zurück, eine brennende Zigarette im Mund. Er nahm einen tiefen Zug und stöhnte:
»Manchmal habe ich die Schnauze gestrichen voll. Wir reißen uns den Arsch auf, kloppen Überstunden ohne Ende, verzichten auf Urlaub, ruinieren unsere Gesundheit und wofür?
Für knapp dreitausend Euro im Monat? Für diese Pressemeute, die uns am liebsten schlachten würde? Oder etwa für die Gesellschaft? Öffentliche Anerkennung? Dass ich nicht lache.«
Ein Anfall von Resignation. Gepaart mit einer gehörigen Portion Selbstmitleid.
»Und du meinst, wenn du wieder anfängst zu rauchen, wird alles besser?«
Für einen Moment sah Hauptkommissar Rüdiger Brischinsky sein Gegenüber verblüfft an. Dann fixierte er die Zigarette in seiner Hand, schüttelte den Kopf und drückte die Kippe auf der Untertasse aus. »Hast ja Recht. Ist im Moment eben alles etwas viel. Der Fuß… Vergiss, was ich eben gesagt habe.« Er grinste schief.
»Schon klar, Chef.«
Brischinsky straffte sich. »So. Dann werde ich jetzt versuchen, Leute für Mittwoch zusammenzukratzen. Und du kümmerst dich um deinen Fall.«
Dieses Mal schien er es ernst zu meinen.
Paul Mühlenkamp sah ziemlich verknautscht aus, als er Heiner Baumann die Tür öffnete. Kleine Pupillen, geschwollene Augenlider, tiefe Falten im Gesicht. Muss ein langer Abend gewesen sein, dachte der Kommissar. Mit viel Alkohol. Er stellte sich vor und zückte seinen Ausweis. Mühlenkamp bat ihn ins Wohnzimmer.
»Ich muss Ihnen einige Fragen zum Tod Ihres Bruders stellen. Reine Ermittlungsroutine.« Immer wieder dieser Satz.
Heiner Baumann hasste ihn. »Ihr Bruder wurde am 22. in einem Wäldchen am Stadtrand von Herne gefunden. Hat er da öfter gejoggt?«
Mühlenkamp zuckte mit den Schultern.
»Hat er denn nie mit Ihnen über seinen Sport gesprochen?«
»Nee.«
»Hm. Gestorben ist Ihr Bruder vermutlich zwischen sieben und neun Uhr am Abend des Vortages. Wissen Sie, wann er an diesem Sonntag die Wohnung verlassen hat?«
»Keine Ahnung.«
»Ihr Bruder wohnte doch über Ihnen. Sie hätten ihn doch hören müssen, wenn er die Treppe herunter…«
»Ich war an dem Abend nich da.«
»Aha. Wo waren Sie denn?«
»Weiß nich mehr. Einen trinken.«
»Und wo?«
Resigniertes Schulterzucken.
»Sie können sich also nicht mehr erinnern, wo Sie waren?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Wieso wissen Sie denn so genau, dass Sie an diesem Abend nicht zu Hause geblieben sind?«
»Weil ich jeden Abend einen trinken geh.«
Das war ein überzeugendes Argument.
»Wohin gehen Sie denn üblicherweise?«
»Roter Hahn.«
»Ist das hier in Süd?«
»Zwei Straßen weiter Richtung Stadt. Rechts anne Ecke.«
Baumann erinnerte sich, auf der Fahrt zu Mühlenkamps Wohnung an der Kneipe vorbeigekommen zu sein. Er machte sich eine Notiz. Auf dem Rückweg ins Präsidium würde er sich in dem Lokal erkundigen. »Sie sind sein einziger Angehöriger?«
Mühlenkamp nickte.
»Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder beschreiben?«
»Na als gut.«
»Kein Streit?«
»Nee.«
»Sie können mir doch nicht erzählen, dass es nie Streit zwischen Ihnen gegeben hat.«
»Wenn ich es doch sage.«
Baumann entschloss sich, dieses Thema nicht weiter zu vertiefen. »Sie sind der einzige Erbe?«
»Ja… Dat heißt, eigentlich nein.«
»Was denn nun?«
»Nein. Mein Bruder hatte eine, wie soll ich sagen, Verlobte.
Die erbt dat Geld.«
Baumann griff erneut zum Kugelschreiber. »Eben sagten Sie, Sie seien der einzige Angehörige.«
»Bin ich ja auch. Die war’n schließlich nich verheiratet.«
Da hatte er Recht. »Wie heißt diese Verlobte?«
»Sabine Schollweg.«
»Und wo wohnt sie?«
»In oder bei Münster, glaub ich.«
»Genauer geht es nicht?«
»Nee.«
»Frau Schollweg erbt also das Geld. Und Sie?«
»Dat Haus. Dat heißt, Horsts Anteil am Haus.
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