Zwielicht
bestätigte Joel mit nicht ganz echtem Verdruß. »Ich befürchte, daß wir so bescheuert und sentimental wären, euch tatsächlich zu Hilfe zu eilen.«
»Und wir werden andere Schausteller mitbringen«, versicherte Laura.
Joel schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht so sicher. Schausteller kommen zwar mit der Außenwelt meistens nicht gerade glänzend zurecht, aber das bedeutet noch lange nicht, daß sie nur Stroh im Kopf haben. Die Erfolgschancen werden ihnen nicht zusagen.«
»Das macht nichts«, beteuerte Rya. »Die Sache wird uns bestimmt nicht über den Kopf wachsen.«
»Wir werden so vorsichtig sein wie zwei Mäuse in einem Haus mit hundert Katzen«, meinte ich.
»Alles wird gutgehen«, sagte Rya.
»Ihr braucht euch um uns keine Sorgen zu machen«, versicherte ich.
Ich meinte wirklich, was ich sagte. Ich glaube, ich fühlte mich tatsächlich so selbstsicher. Meine unbegründete Zuversicht läßt sich nicht einmal mit Trunkenheit entschuldigen, denn ich war völlig nüchtern.
In den frühen Morgenstunden wurde ich von fernem Donner irgendwo draußen im Golf geweckt. Ich lag eine Weile schlaftrunken da und lauschte Ryas regelmäßigen Atemzügen und dem grollenden Himmel.
Als die Nebelschwaden des Schlafs sich allmählich auflösten und ich einigermaßen klar denken konnte, fiel mir ein, daß ich direkt vor dem Aufwachen einen schlimmen Traum gehabt hatte, in dem ebenfalls Donner vorgekommen war. Nachdem frühere Träume sich als prophetisch erwiesen hatten, versuchte ich mir diesen Alptraum in Erinnerung zu rufen, aber die vagen Bilder verflogen wie Rauch im Wind, bevor ich sie zu einem sinnvollen Puzzle zusammenfügen konnte. Obwohl ich mich lange darauf konzentrierte, erinnerte ich mich nur an einen seltsamen einengenden Ort, einen langen schmalen Flur oder vielleicht auch Tunnel, wo tintige Schwärze aus den Wänden zu sickern schien und die einzigen Lichtquellen — schwach und senfgelb — durch bedrohliche Schatten weit voneinander getrennt waren. Ich wußte weder, um welchen Ort es sich handelte, noch, welche schrecklichen Ereignisse dort stattgefunden hatten; doch sogar diese vagen Erinnerungen ließen mich frösteln und verursachten mir lautes Herzklopfen.
Draußen im Golf donnerte es stärker.
Dicke Regentropfen fielen aufs Dach.
Der Alptraum verflog immer mehr, und mit ihm meine Angst.
Das rhythmische Trommeln des Regens wirkte einschläfernd.
Neben mir murmelte Rya im Traum.
Ich dachte daran, daß ich in nur zweieinhalb Tagen die sommerliche Wärme Floridas gegen die Winterkälte des weiter nördlich gelegenen Yontsdown eintauschen müßte, und flüchtete mich rasch in den Schlaf. Doch morgens erwachte ich wieder angsterfüllt, ohne mich an den Alptraum erinnern zu können — was mich zwar störte, aber dennoch nicht direkt beunruhigte.
Gibtown ist die Winterheimat für Schausteller aus allen möglichen Wanderunternehmen der östlichen Landeshälfte. Im Gegensatz zu den Sombra Brothers stellen manche Gesellschaften neue Arbeitskräfte ein oder schließen Verträge mit neuen Konzessionären ab, ohne irgendwelche Fragen zu stellen, und auf diese Weise geraten hin und wieder — wenn auch sehr selten — einige Kriminelle unter die Schausteller. Deshalb kann man in Gibtown fast alles bekommen, was man will, sofern man als vertrauenswürdiges Mitglied der Gemeinschaft gilt.
Ich wollte zwei gute Revolver, zwei Pistolen mit illegalen Schalldämpfern, eine abgesägte Schrotflinte, eine Maschinenpistole, mindestens 100 Pfund irgendeines Plastiksprengstoffs, Sprengkapseln mit eingebautem Zeitzünder, ein Dutzend Ampullen mit Natriumpentothal, eine Packung Spritzen und einige andere Dinge, die man nicht einfach im Kaufhaus erwerben kann. An jenem Dienstagmorgen brauchte ich kaum eine halbe Stunde vorsichtig herumzufragen, bis ich wußte, daß ich mich an Norland ›Slick Eddy‹ Beckwurt zu wenden hatte, einen Konzessionär bei einem großen Unternehmen, das während der Saison hauptsächlich den Mittelwesten bereiste.
›Slick Eddy‹ — der ›flotte Eddy‹ — sah alles andere als flott aus. Er wirkte vertrocknet, hatte sprödes sandfarbenes Haar und war trotz der Sonne von Florida so bleich wie der Staub in einem antiken Grab. Seine Haut war pergamentartig, mit feinen Falten durchzogen, und seine Lippen waren rissig. Seine Augen hatten die eigenartige Farbe von blassem Bernstein oder vergilbtem Papier. Er trug Khakihosen und ein Khakihemd, das bei jeder Bewegung
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