Zwielicht
möglicherweise hätten hören können — auch wenn wir bisher nichts von ihnen hörten.
Nach dem Mittagessen legten wir noch eine ordentliche Wegstrecke zurück, bis wir um zwanzig nach eins um eine Ecke bogen und Licht vor uns sahen. Senfgelbes Licht, etwas trüb. Ominös. Wie das Licht in unserem gemeinsamen Alptraum.
Wir schlichen durch den schmalen, feuchten, dunklen Tunnel, der zur Kreuzung mit den beleuchteten Schacht führte. Obwohl wir uns übertrieben vorsichtig bewegten, kam es uns so vor, als dröhnten unsere Schritte so laut wie Donner, als wäre unser Atem so laut wie das Zischen eines riesigen Blasebalgs.
An der Ecke blieb ich stehen und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand.
Horchte.
Wartete.
Wenn ein Minotaurus in diesem Labyrinth hauste, trug er offenbar Schuhe mit Kreppsohlen, denn es herrschte eine Totenstille. Abgesehen von dem Licht schienen wir hier unten noch immer so allein zu sein wie in den letzten sieben Stunden.
Ich beugte mich vor und spähte vorsichtig in den beleuchteten Tunnel, zuerst nach links, dann nach rechts. Kein Troll war zu sehen.
Wir traten aus der Dunkelheit ins Licht, das unseren Gesichtern und Augen eine ungesunde gelbe Farbe verlieh.
Zur Rechten verengte sich der Tunnel und endete nach kaum sechs Metern. Zur Linken war er jedoch sechs Meter breit und wurde über eine Länge von knapp fünfzig Metern immer breiter. An der breitesten Stelle — etwa 15 Meter — wurde er offenbar von einem anderen horizontalen Schacht gekreuzt. An der Decke waren in regelmäßigen Abständen von zehn Metern kegelförmige Lampen mit mittelstarken Glühbirnen angebracht, so daß auf dem Boden zwischen den Lichtkegeln jeweils einige Meter völlig im Dunkeln lagen.
Genau wie im Traum.
Die einzigen Unterschiede zwischen Realität und Traum bestanden darin, daß die Lampen nicht flackerten und wir nicht — noch nicht? — verfolgt wurden.
Hier endete Horton Bluetts Karte. Nun waren wir ganz auf uns gestellt.
Ich schaute Rya an und wünschte plötzlich, ich hätte sie nicht an diesen Ort gebracht. Aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr.
Ich deutete auf das Ende des Tunnels.
Sie nickte.
Wir holten unsere mit Schalldämpfern versehenen Pistolen aus den tiefen Taschen unserer Skihosen und entsicherten sie.
Seite an Seite gingen wir so leise wie nur irgend möglich auf das breite Schachtende zu, durch Licht und Schatten, Licht und Schatten...
An der Kreuzung spähte ich wieder vorsichtig um die Ecke. Der Quertunnel war etwa 18 Meter breit und noch etwas länger als der erste — gut 60 Meter. Die Balken waren alt, aber doch bei weitem nicht so alt wie alle, die wir bisher gesehen hatten. Eigentlich war das schon kein Tunnel mehr, sondern ein riesiger, von zwei Reihen Lampen beleuchteter Raum, dessen Boden ein Schachbrettmuster aus Licht und Dunkelheit aufwies.
Ich hielt diesen Raum für leer und wollte schon um die Ecke biegen, als ich ein Kratzen, ein Klicken und noch ein Kratzen vernahm.
Rechts von mir, etwa 20 Meter entfernt, tauchte ein Troll aus einem dunklen Quadrat des Schachbretts auf. Er war in jeder Hinsicht unbekleidet: sowohl nackt als auch ohne die menschliche Tarnung. Er hatte in jeder Hand ein Werkzeug; beide waren mir unbekannt. Er hob mehrmals erst das eine, dann das andere an seine Augen und betrachtete Decke, Boden und Wände, so als nehme er Maß oder studiere die Beschaffenheit des Gesteins.
Ich drehte mich nach Rya um und legte einen Finger auf meine Lippen.
Ihre blauen Augen waren sehr groß, und das Weiße darin war genauso gelb verfärbt wie ihre Haut. Das gespenstische Licht fiel auch auf den weißen Skianzug und schimmerte auf dem Helm. Sie sah wie die goldene Statue einer unglaublich schönen Kriegsgöttin aus, mit kostbaren Saphiren als Augen.
Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger machte ich mehrmals eine Bewegung, so als drücke ich auf eine Spritze.
Sie nickte, öffnete ganz langsam — um nur ja kein Geräusch zu verursachen — den Reißverschluß ihrer Jacke und griff in eine Innentasche, wo sie eine in Plastik gehüllte Spritze und eine Ampulle Pentothal verstaut hatte.
Ich warf wieder einen Blick um die Ecke und stellte fest, daß der Troll mit seinen Meßinstrumenten beschäftigt war und mir den Rücken zuwandte. Er stand etwas nach vorne gebeugt da und betrachtete den Boden. Dabei murmelte er entweder etwas vor sich hin oder er summte eine eigenartige Melodie; jedenfalls machte er genügend Lärm, um mein Anschleichen zu
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