Zwielicht
zog eine Karte aus seiner Manteltasche. »Ich habe sie aus dem Gedächtnis gezeichnet, aber mein Gedächtnis funktioniert hervorragend, und ich glaube nicht, daß mir irgendwelche Fehler unterlaufen sind.«
Er ging in die Hocke, und wir folgten seinem Beispiel. Er breitete die Karte zwischen uns auf dem Boden aus und strahlte sie mit der Taschenlampe an. Sie sah aus wie ein Suchrätsel. Und — noch schlimmer — sie hatte ihre Fortsetzung auf der Rückseite des Blattes, und dort sah das Labyrinth sogar noch komplizierter aus.
»Gut die Hälfte des Weges«, sagte Horton, »könnt ihr euch in normaler Lautstärke unterhalten, so wie wir es jetzt tun, ohne befürchten zu müssen, daß die Trolle euch hören könnten. Aber ab dieser roten Markierung hier solltet ihr lieber still sein oder aber flüstern, wenn es etwas zu besprechen gibt. Der Schall pflanzt sich in diesen Tunnels sehr gut fort.«
Ich betrachtete das aufgezeichnete Labyrinth und meinte: »Na ja, eines steht fest... wir werden viel Farbe benötigen.«
»Horton, sind Sie sicher, daß diese Karte in allen Einzelheiten stimmt?« fragte Rya.
»Ja.«
»Ich meine nur... na ja, Sie mögen als Junge sehr viel Zeit in diesen alten Schächten verbracht haben, aber das ist immerhin lange her — etwa sechzig Jahre, stimmt’s?«
Er räusperte sich und wurde wieder verlegen. »Nein, so lange ist es nicht her.« Er hielt seinen Blick auf die Karte gerichtet. »Wißt ihr, nachdem meine Etta an Krebs gestorben war, fühlte ich mich ziemlich einsam und verloren, und ich war wahnsinnig nervös und angespannt, weil ich nicht wußte, wie es jetzt weitergehen sollte. Es wurde immer schlimmer, und schließlich sagte ich mir: ›Horton, wenn du nicht bald etwas findest, womit du die leeren Stunden füllen kannst, landest du noch in der Gummizelle.‹ Und dann fiel mir ein, wie befriedigend es gewesen war, als Kind den Höhlenforscher zu spielen. Deshalb habe ich dieses Hobby wieder aufgenommen. Das war im Jahre 1934, und in den folgenden achtzehn Monaten habe ich jedes Wochenende in diesen Minen oder in natürlichen Höhlen verbracht. Als ich dann vor neun Jahren in Rente ging, stand ich vor einer ähnlichen Situation, und wieder habe ich mir mit dieser Beschäftigung die Zeit vertrieben. Eine verrückte Sache für einen Fünfundsechzigjährigen, aber ich habe sie anderthalb Jahre lang betrieben, bis der Ruhestand für mich seine Schrecken verlor. Na ja, was ich damit sagen wollte, war eigentlich nur, daß diese Karte auf Erinnerungen beruht, die höchstens so an die sieben Jahre alt sind.«
Rya legte eine Hand auf seinen Arm.
Er schaute sie an.
Sie lächelte, und er lächelte, und dann legte er seine Hand auf die ihrige und drückte sie.
Auch für jene unter uns, die nicht von Trollen geplagt werden, ist das Leben alles andere als einfach. Aber die unzähligen Methoden, die wir anwenden, um schwierige Wegstrecken bewältigen zu können, legen ein beredtes Zeugnis von unserem Lebenswillen ab.
»Nun, wenn ihr euch nicht bald auf die Socken macht, werdet ihr so alt und verknöchert wie ich sein, bevor ihr hier wieder rauskommt.«
Er hatte recht, aber ich wollte nicht, daß er wegging. Wir kannten ihn erst einen Tag und hatten das Potential unserer Freundschaft noch kaum erkunden können.
Das Leben ist — vielleicht habe ich es bereits erwähnt – eine lange Fahrt, bei der Freunde und geliebte Menschen plötzlich unerwartet aussteigen, und dann müssen wir die Reise in immer größerer Einsamkeit fortsetzen. Eine solche Bahnstation war jetzt wieder erreicht.
Horton überließ uns den Sack und nahm nur die Taschenlampe mit. Er kletterte den vertikalen Schacht hinauf, und die rostigen Eisensprossen klirrten und quietschten. Als er oben war, schaute er zu uns herab und schien uns noch vieles sagen zu wollen, beschränkte sich dann aber auf ein leises: »Gott beschütze euch.«
Wir starrten nach oben.
Er entfernte sich, und das Licht seiner Taschenlampe wurde immer schwächer.
Dann wurde es oben ganz dunkel.
Seine Schritte verhallten.
Er war fort.
In nachdenklichem Schweigen packten wir alle Gegenstände vorsichtig wieder in den Sack.
Dann begaben wir uns noch tiefer unter die Erde.
Ich spürte keine unmittelbare Gefahr, trotzdem hatte ich starkes Herzklopfen. Obwohl ich fest entschlossen war, nicht zu fliehen, hatte ich das beklemmende Gefühl, das Tor zur Hölle durchschritten zu haben.
28 - Reise nach Abaddon
Immer tiefer hinab...
Irgendwo weit
Weitere Kostenlose Bücher