Zwielicht
kommenden Welt sexuelle Freuden sicherstellen sollten — und irgendwo schlummerte der mumifizierte König selbst auf einem goldenen Katafalk.
Ein riesiges Zeughaus war mit Feuerwaffen angefüllt: Pistolen, Revolver, Schrotflinten, Gewehre und Maschinenpistolen — genügend Waffen, um mehrere Abteilungen auszustatten. Ich sah keine Munition, war aber überzeugt davon, daß in irgendeinem anderen Raum Millionen von Patronen lagerten. Und ich hätte wetten können, daß irgendwo noch gefährlichere Kriegswaffen aufbewahrt wurden.
Im letzten Raum, der vom zweiten Tunnel abging, befand sich eine Bibliothek mit mindestens 50000 Bänden. Auch hier hielt sich niemand auf. Während wir an den langen Regalen entlanggingen, mußte ich an die Yontsdowner Stadtbücherei denken, denn diese beiden Stätten waren wie Inseln der Normalität in einem Meer von Fremdartigkeit. Ihnen war eine Atmosphäre von Frieden und Ruhe gemeinsam, und die Luft roch nach Papier und Stoffeinbänden.
Und doch gab es einen gewaltigen Unterschied zur Stadtbücherei. Rya fiel auf, daß die Belletristik fehlte: Dickens, Dostojewskij, Stevenson und Poe waren verschwunden. Ich fand auch keine Geschichtsabteilung; verbannt waren Gibbon, Herodot und Plutarch. Es gab auch keine einzige Biographie berühmter Männer und Frauen, keine Lyrik, keine Humoristik, keine Reisebeschreibungen, weder Theologie noch Philosophie. Nur trockene Fachbücher über Algebra, Geometrie, Trigonometrie, Physik, Geologie, Biologie, Physiologie, Astronomie, Genetik, Chemie, Biochemie, Elektronik, Landwirtschaft, Tierzucht, Ingenieurtechnik, Metallurgie, Architektur...
Mit Hilfe dieser Bibliothek konnte ein intelligentes Wesen unter gelegentlicher Anleitung eines Fachmannes lernen, wie man eine Farm wirtschaftlich führt, wie man ein Auto repariert oder sogar baut (oder ein Flugzeug oder einen Fernseher), wie man eine Brücke entwirft und konstruiert, wie man Fabriken zur Herstellung von Transistoren einrichtet... Es war eine Bibliothek, die alles an Wissen enthielt, was zur Aufrechterhaltung sämtlicher praktischer Aspekte der modernen Zivilisation notwendig war; über geistige und emotionale Werte, auf denen diese Zivilisation basierte, war hier nichts zu erfahren: nichts über Liebe, Glauben, Tapferkeit, Hoffnung, Brüderlichkeit, Wahrheit oder den Sinn des Lebens.
»Eine gründliche Sammlung«, flüsterte Rya. Was sie eigentlich meinte, war ›eine furchterregende Sammlung‹.
Ich wiederholte: »Gründlich«, meinte aber eigentlich »grauenvoll«.
Obwohl uns inzwischen dämmerte, wozu diese gigantische unterirdische Anlage dienen sollte, waren wir beide nicht bereit, unsere Vermutungen in Worte zu fassen. Gewisse primitive Stämme haben einen Namen für den Teufel, weigern sich aber, ihn auszusprechen, weil sie glauben, daß er sonst erscheint. Genauso widerstrebte es Rya und mir, die Ziele der Trolle zu diskutieren, weil wir befürchteten, daß ihre schrecklichen Absichten sich andernfalls in unabänderliches Schicksal verwandeln würden.
Vom zweiten Tunnel aus betraten wir vorsichtig einen dritten, wo wir bald unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt sahen. In drei großen Räumen entdeckten wir unermeßliche Vorräte an Obst- und Gemüsesamen; eine Spezialbeleuchtung sollte wahrscheinlich die Photosynthese und schnelles Wachstum fördern. Es gab große Stahlbehälter mit flüssigem Dünger, allen Chemikalien und Mineralen, die für Wasserkultur benötigt wurden. Große flache Tröge waren vorläufig noch leer, warteten jedoch darauf, mit Wasser, Nährlösungen und Sämlingen gefüllt und auf diese Weise in das hydroponische Äquivalent fruchtbarer Felder verwandelt zu werden. In Anbetracht der gewaltigen Lebensmittelvorräte wie der geplanten Pflanzungen und in Anbetracht dessen, daß wir höchstwahrscheinlich nur einen Bruchteil ihrer landwirtschaftlichen Vorbereitungen gesehen hatten, zweifelte ich nicht daran, daß sie darauf eingestellt waren, Tausende ihrer Spezies jahrzehntelang zu ernähren, falls es erforderlich werden sollte, lange Zeit hier unten Zuflucht zu suchen.
Während wir von einem Raum in den anderen, von einem Tunnel in den anderen gingen, sahen wir häufig ihr geheiligtes Symbol: weißer Himmel, dunkler Blitz. Jedesmal mußte ich hastig meinen Blick abwenden, denn meine Visionen von der kalten, stillen, ewigen Nacht wurden immer beklemmender. Am liebsten hätte ich diese Keramik-Ikonen in die Luft gejagt — aber ich wollte den kostbaren
Weitere Kostenlose Bücher