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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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nicht«, erwiderte er.
    Im Hinausgehen hatte ich das Gefühl, als würden seine roten Augen mir Löcher in den Rücken brennen. Ich kehrte zum Cadillac zurück, wo Jelly Jordan und Luke Bendingo neugierig auf mich warteten.
    »Was war denn los?« wollte Jelly wissen.
    »Ach, ich wollte mir nur den Haupteingang dieses Gebäudes etwas genauer anschauen.«
    »Warum?«
    »Ich bin ganz versessen auf Architektur.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja.«
    »Seit wann?«
    »Seit meiner Kindheit.«
    »Du bist immer noch ein halbes Kind.«
    »Das kann man von Ihnen auch sagen, denn Sie sind ganz versessen auf Spielzeug, und das ist noch viel ausgefallener als mein Interesse an Architektur.«
    Er starrte mich einen Augenblick an und zuckte dann lächelnd die Schultern. »Du hast vermutlich recht. Aber Spielzeug macht mehr Spaß.«
    Während wir einstiegen, widersprach ich: »Oh, das würde ich nicht sagen. Architektur kann faszinierend sein. Und in dieser Stadt gibt es jede Menge herrlicher Bauten im gotischen und mittelalterlichen Stil.«
    »Mittelalterlich?« fragte Jelly, während Luke den Motor anließ.
    »Ja.«
    »Nun, in dieser Hinsicht hast du bestimmt recht. Dieser Ort könnte wirklich aus dem finstersten Mittelalter stammen.«
     
    Auf der Rückfahrt kamen wir wieder an der ausgebrannten Grundschule vorbei, wo im April sieben Kinder verbrannt waren. Ich starrte die gähnenden Fensterhöhlen und die rußigen Mauern an, und diesmal gaben sie nicht nur leichte Vibrationen ab, die auf eine künftige Tragödie hindeuteten. Vielmehr brandete eine riesige Welle verschiedener Visionen mir entgegen. Für meinen sechsten Sinn war diese Welle genauso real wie eine Meereswoge, und sie beinhaltete unvorstellbares menschliches Leid. Sie brauste mit hoher Geschwindigkeit und wahnwitziger Kraft auf mich zu, schwarz und unheilvoll, mit n ichts vergleichbar, was ich bisher in dieser Hinsicht erlebt hatte, und mich packte plötzlich ein gewaltiger Schrecken. Einzelne Tropfen flogen der schäumenden Welle voraus, und als mein sensibler Geist sie auffing, ›hörte‹ ich Kinder vor Schmerz und Entsetzen schreien... Feuer knistern und zischen und prasseln... Alarmglocken läuten... eine Wand mit ohrenbetäubendem Lärm zusammenstürzen... Schreie... ferne Sirenen... Und ich ›sah‹ unsagbare Greuel: ein apokalyptisches Feuer... eine Lehrerin mit brennenden Haaren... blindlings durch Rauchwolken taumelnde Kinder... andere Kinder, die in ihrer Verzweiflung vergeblich unter Pulten Schutz suchten, während schwelende Deckenplatten auf sie herabstürzten...
    Teilweise sah und hörte ich Szenen von dem Brand im vergangenen April, teilweise waren es aber auch Szenen von einem noch nicht ausgebrochenen Feuer, Bilder und Geräusche der Zukunft, und in beiden Fällen spürte ich deutlich, daß es sich bei der Brandursache weder um einen Maschinenschaden noch um menschliches Versagen handelte, sondern um das Werk von Trollen. Ich begann nun auch den Schmerz der Kinder und die sengende Glut zu fühlen und empfand ihre Todesängste. Die Welle kam immer näher, wurde immer höher, immer dunkler, ein schwarzer Brecher, so gewaltig, daß er mich zerschmettern würde, so kalt, daß er alle Lebenswärme in mir auszulöschen drohte. Ich schloß die Augen, um die halb zerstörte Schule nicht mehr sehen zu müssen, und versuchte verzweifelt, meinen sechsten Sinn mit dem geistigen Äquivalent eines Bleischilds zu umgeben, die unerwünschten Visionen abzublocken. Um mich abzulenken, dachte ich an meine Mutter und meine Schwestern, dachte an Oregon und die Siskiyous... dachte an Rya Raines' perfekt geformtes Gesicht und an ihr in der Sonne funkelndes Haar. Diese Erinnerungen an Rya waren es, die mich gegen den Aufprall des psychischen Brechers wappneten, der mich jetzt überrollte, ohne mich aber zu zermalmen oder mitzureißen.
    Ich wartete eine halbe Minute, bis ich nichts Übernatürliches mehr wahrnahm. Dann erst öffnete ich die Augen. Die Schule lag hinter uns. Wir näherten uns der alten Eisenbrücke, die so aussah, als wäre sie aus versteinerten schwarzen Knochen konstruiert worden.
    Weil Jelly wieder auf dem Rücksitz saß, und weil Luke sich völlig auf den Verkehr konzentrierte (vielleicht befürchtete er, daß einer von Kelskos Männern die kleinste Übertretung einer Vorschrift zum Vorwand für eine Riesenaktion machen würde), hatte keiner von beiden etwas von dem eigenartigen Anfall bemerkt, der mich eine Minute lang völlig außer Gefecht gesetzt hatte wie

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