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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Jelly manchmal, wenn er nachts keinen Schlaf fand, auf den Rummelplatz ging, das Karussell in Gang setzte (allerdings ohne die Musik) und ganz allein damit fuhr. Er liebte das Kinderkarussell. Es war das größte aufziehbare Spielzeug, das er kannte, viel zu groß, um auf einem Regal in seinem Büro zu stehen. Normalerweise saß er wegen seines Umfangs auf einer der kunstvoll geschnitzten und bunt bemalten Bänke mit Armlehnen in Form von Seejungfrauen oder Seepferden. Doch hin und wieder stieg er auch auf eines der Pferde, und das mußte er in der vergangenen Nacht auch getan haben. Vielleicht hatte er sich Sorgen über die Verluste wegen des schlechten Wetters gemacht oder an die Schwierigkeiten gedacht, die Polizeichef Kelsko dem Unternehmen möglicherweise bereiten würde. Jedenfalls hatte er sich, um seine Nerven zu beruhigen, in den Sattel des schwarzen Hengstes geschwungen, während das Karussell sich schon langsam im Kreis drehte. Der Wind hatte seine Haare zerzaust, nur Donner und Regen waren zu hören gewesen, und höchstwahrscheinlich hatte er übers ganze Gesicht gestrahlt und vielleicht auch leise gepfiffen, ein glückliches Kind an Bord einer magischen Zentrifuge, die Jahre und Sorgen hinausschleuderte und Träume auffing; und nach einiger Zeit hatte er sich wohler gefühlt und beschlossen, wieder in sein Bett zurückzukehren. Doch als er vom Hengst stieg, war sein rechter Schuh im Steigbügel hängengeblieben, und obwohl er seinen Fuß aus dem Schuh befreien konnte, war er gestürzt. Bei diesem Sturz hatte er sich trotz der geringen Höhe die Lippen aufgeschlagen, zwei Zähne ausgeschlagen und das Genick gebrochen.
    Tod durch Unfall.
    Eine dumme, lächerliche, sinnlose Todesart, aber nichts weiter als ein tragischer Unfall.
    Blödsinn!
    Ich wußte nicht genau, was Jelly Jordan zugestoßen war, aber ich wußte, daß ein Troll ihn kaltblütig ermordet hatte. An seinem Leichnam stehend, hatte ich den kaleidoskopartigen Bildern und Gefühlen, die über mich hereingebrochen waren, drei Tatsachen entnehmen können: erstens, daß Jelly nicht auf dem Karussell gestorben war, sondern im Schatten des Riesenrades; zweitens, daß ein Troll mindestens dreimal zugeschlagen, ihm das Genick gebrochen und ihn mit Hilfe anderer Trolle zum Karussell getragen hatte, wo der angebliche Unfall in Szene gesetzt worden war.
    Gewisse Vermutungen lagen auf der Hand. Jelly hatte nicht einschlafen können und einen Nachtspaziergang im Regen unternommen; und dabei hatte er etwas gesehen, das er nicht hätte sehen dürfen. Was? Wahrscheinlich hatte er Fremde, keine Schausteller, überrascht, die sich in verdächtiger Weise am Riesenrad zu schaffen machten. Ohne zu ahnen, daß er keine Menschen vor sich hatte, dürfte er sie energisch angerufen haben. Anstatt wegzurennen, hatten ihn die Trolle angegriffen.
    Ich sagte eben, ich hätte dreierlei deutlich wahrgenommen, als ich im Karussell auf die sterblichen Überreste des fetten Mannes hinabgeblickt hatte. Das dritte war am schwersten zu bewältigen, denn dabei handelte es sich um einen Moment unglaublich intensiven persönlichen Kontakts mit Jelly, um einen tiefen Einblick in sein Wesen, der seinen Verlust noch schmerzlicher machte. Ich hatte hellseherisch seinen letzten Gedanken im Augenblick des Todes aufgefangen. So als hätte dieser Gedanke darauf gewartet, von jemandem wie mir gelesen zu werden, hatte er bei dem Leichnam ausgeharrt, ein Rest psychischer Energie, vergleichbar einem Stoffetzen, der am Stacheldrahtzaun zwischen dem Diesseits und der Ewigkeit hängengeblieben war. Als Jellys Leben ausgelöscht wurde, hatte sein letzter Gedanke einem Trio kleiner aufziehbarer Bären mit weichem Fell gegolten — Papa, Mama, Baby —, die seine Mutter ihm zum siebenten Geburtstag geschenkt hatte. Er hatte diese Spielzeuge so sehr geliebt. Sie waren etwas ganz Besonderes gewesen, das genau richtige Geschenk zur richtigen Zeit, denn zwei Monate vor diesem Geburtstag war sein Vater vor seinen Augen ums Leben gekommen — ein zu schnell fahrender Stadtbus in Baltimore hatte ihn überrollt —, und die Spielzeugbären hatten ihm eine Fantasiewelt eröffnet, in der er zeitweilig Zuflucht vor einer Realität suchen konnte, die schlagartig unerträglich kalt, grausam und unberechenbar geworden war. Und im Augenblick seines eigenen Todes hatte Jelly sich gefragt, ob er selbst das Bärenbaby sei, und wenn ja, ob er dort, wohin er jetzt ging, mit Mama und Papa vereint sein würde. Und er hatte

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