Zwielicht
Schallwellen sich nicht ausbreiten konnten.
Sie hatten Jelly viel besser gekannt als ich, aber ich konnte einfach nicht diskret am Rand der Menge stehenbleiben. Ich bahnte mir langsam einen Weg durch die Trauernden, flüsterte »Entschuldigung« und »Verzeihung«, bis ich vor der erhöhten Plattform des Karussells stand. Regen peitschte unter das rotweiß gestreifte Dach, rann an den Messingstangen hinab und wusch die hölzernen Pferde mitsamt ihren festmontierten Sätteln und Steigbügeln. An einigen von diesen mitten im Sprung erstarrten Tieren vorbei, deren Hufe erhoben und deren emaillierte Zähne gebleckt waren, gelangte ich zu der Stelle, wo Jelly Jordans Leben ein jähes Ende gefunden hatte.
Jelly lag auf dem Rücken, auf dem Karussellboden, zwischen einem schwarzen Hengst und einer weißen Stute. Seine Augen waren weit aufgerissen, ganz so, als könnte er es nicht fassen, von den galoppierenden Pferden zertrampelt zu werden. Auch sein Mund war geöffnet, die Lippen waren aufgeschlagen, zumindest ein Zahn fehlte. Es sah fast so aus, als bedecke ein rotes Cowboy-Halstuch seine untere Gesichtshälfte, aber es war kein Halstuch, es war eine Blutkruste.
Er trug einen nicht zugeknöpften Regenmantel, ein weißes Hemd und dunkelgraue Hosen. Das rechte Hosenbein war bis zum Knie hochgeschoben und entblößte seine dicke weiße Wade. Am rechten Fuß fehlte der Schuh — er war im Steigbügel des schwarzen Hengstes eingeklemmt.
Drei Menschen waren in der Nähe des Leichnams. Luke Bendingo, der uns am Freitag nach Yontsdown und zurück chauffiert hatte, stand neben den Hinterbeinen der weißen Stute. Sein Gesicht war weiß wie das Pferd, und der Blick, den er mir zuwarf — blinzelnde Augen, zitternder Mund —, war ein wortloses Stottern von Kummer und Zorn, im Augenblick noch etwas gedämpft durch den schweren Schock. Auf dem Boden kniete ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte — Anfang oder Mitte Sechzig, gepflegt, grauhaarig, mit sorgfältig gestutztem grauem Schnurrbart. Er hielt den Kopf des Toten und wurde von lautlosem Schluchzen geschüttelt, während Tranen über sein Gesicht rannen. Der dritte Mann war Joel Tuck. Er stand eine Pferdelänge entfernt, mit dem Rücken an einen Schecken gelehnt, und umklammerte mit seiner Riesenpranke die Messingstange. Ausnahmsweise war es nicht schwer, in diesem Gesicht zu lesen, das eine Mischung zwischen einem kubistischen Porträt von Picasso und einem alptraumhaften Fantasiewesen von Mary Shelley war. Joel war vom Verlust Jelly Jordans völlig niedergeschmettert.
Sirenen heulten in der Ferne, wurden immer lauter, erstarben mit einem letzten Aufstöhnen. Gleich darauf tauchten zwei Polizeilimousinen mit Blaulicht auf der Schaustellerstraße auf. Sie hielten vor dem Karussell, und als die Türen zugeworfen wurden, blickte ich zu ihnen hinüber und stellte fest, daß drei der vier Polizeibeamten Trolle waren.
Ich spürte, daß Joels Augen auf mir ruhten, und als ich ihn ansah, erschrak ich über das unerwartete Mißtrauen, das sowohl in seinem verunstalteten Gesicht geschrieben stand als auch — mit meinem sechsten Sinn deutlich wahrnehmbar — von seiner ganzen Person ausstrahlte. Ich hatte geglaubt, daß er sich ebenso wie ich für die Troll-Polizisten interessieren würde, aber er streifte sie nur mit einem müden Blick und konzentrierte seine Aufmerksamkeit weiterhin auf mich. Sein unverkennbares Mißtrauen zusammen mit der Ankunft der Trolle und zusammen mit den schrecklichen übersinnlichen Erkenntnissen, die ich von dem Leichnam empfing — das alles war einfach zuviel für mich, und ich entfernte mich rasch.
Ich lief auf der Rückseite der Fahrgeschäfte und Buden durch den Regen, der zwischen Nieseln und Wolkenbruch abwechselte. Mich quälten schwere Schuldgefühle. Joel hatte meinen Mord an dem Mann im Autoskooter beobachtet und vermutet, daß ich diesen Mord begangen hatte, weil ich — wie er selbst — den Troll unter der menschlichen Hülle sah. Doch nun war Jelly tot, und in dem armen Timothy Jordan hatte kein Troll gehaust. Joel fragte sich jetzt wahrscheinlich, ob er vielleicht einen falschen Schluß gezogen hatte, ob ich vielleicht doch keine Trolle sehen konnte, sondern einfach ein wahnsinniger pathologischer Mörder war, der jetzt ein zweites Mal zugeschlagen und diesmal einen Unschuldigen getötet hatte. Aber ich hatte Jelly nichts zuleide getan, und es war nicht Joel Tucks Verdacht, der in mir Schuldgefühle hervorrief. Nein, ich fühlte mich
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