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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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schuldig, weil ich gewußt hatte, daß Jelly in Gefahr war, und weil ich ihn trotzdem nicht gewarnt hatte.
    Ich hätte den genauen Zeitpunkt der Gefahr vorhersehen müssen, den genauen Ort und die Art der Bedrohung, und ich hätte zur Stelle sein müssen, um das Geschehen zu verhindern. Es spielte keine Rolle, daß meine übersinnlichen Kräfte begrenzt sind, daß die hellseherischen Bilder und Impressionen oft vage oder verwirrend sind und daß ich nur wenig — häufig auch gar keine — Kontrolle über sie habe. Es spielte auch keine Rolle, daß er mir nicht geglaubt hätte, selbst wenn ich versucht hätte, ihn vor der namenlosen Gefahr zu warnen. Es spielte auch keine Rolle, daß ich nicht der Retter der ganzen verdammten Welt und jeder verdammten armen Seele bin — und sein kann. Das alles war keine Entschuldigung. Ich hätte trotzdem imstande sein müssen, diesen Tod irgendwie zu verhindern. Ich hätte ihn retten müssen.
    Ich hätte...
    Ich hätte...
     
    Die Schausteller versuchten einander zu helfen, Jellys Tod zu akzeptieren. Einige von ihnen weinten noch immer, und einige beteten. Doch die meisten gaben Geschichten über Jelly zum besten, weil Erinnerungen die Möglichkeit boten, ihn lebendig zu erhalten. Kleine Gruppen hatten sich in den Wohnzimmern der Wohnwagen zusammengefunden, und sobald eine Anekdote über den dicken Spielzeugfan zu Ende erzählt war, leistete der nächste in der Runde seinen Beitrag, und so ging es immer weiter. Es wurde sogar gelacht, denn Jelly Jordan war ein amüsanter und ungewöhnlicher Mensch gewesen, und allmählich machte die schreckliche Leere und Betäubung einer bittersüßen Traurigkeit Platz, die leichter zu ertragen war. Dieser hintersinnige Brauch und das gleichsam unbewußt vollzogene Trauerritual erinnerten stark an die jüdische Tradition der Schiwa. Wenn man mich beim Betreten des Raumes aufgefordert hätte, meine Hände über eine Schüssel zu halten, damit sie mit Wasser begossen werden könnten, und wenn man mir eine Jarmulke zum Bedecken des Hauptes gegeben hätte, und wenn die Anwesenden nicht auf Sofas und Stühlen, sondern auf niedrigen Schemeln oder auf Fußboden gesessen hätten, so wäre ich keineswegs überrascht gewesen.
    Ich lief mehrere Stunden durch den Regen, und hin und wieder betrat ich den einen oder anderen Wohnwagen und nahm an der einen oder anderen Schiwa teil, und überall erfuhr ich etwas Neues. Der gepflegte grauhaarige Mann, der über Jellys Leichnam geweint hatte, war Arturo Sombra, der einzige Überlebende der Gebrüder Sombra, der Besitzer des Wanderunternehmens. Jelly Jordan war so etwas wie ein ›Sohnersatz‹ für ihn gewesen, und nach dem Tod des alten Mannes hätte Jelly den ganzen Vergnügungspark geerbt. Die Bullen machten es Mr. Sombra noch schwerer, indem sie unterstellten, daß an der ganzen Geschichte etwas faul sei, daß Jelly von einem Schausteller ermordet worden sei. Zur großen Verwunderung aller äußerten die Bullen sogar den Verdacht, daß Jelly umgebracht worden sei, weil er Gelder unterschlagen habe, wozu seine Vertrauensstellung ihm Gelegenheit gegeben hatte. Sie deuteten an, daß sogar Mr. Sombra selbst der Mörder sein könnte, obwohl es keinerlei Anzeichen für einen derartigen Verdacht gab — dafür um so mehr Gründe, die dagegen sprachen. Sie quetschten den alten Mann und Buchhalter Dooley und jeden anderen, dem eventuelle Unterschlagungen Jellys hätten auffallen können, gründlich aus und führten sich bei diesen Verhören denkbar grob und niederträchtig auf. Sämtliche Schausteller waren darüber zutiefst empört.
    Mich wunderte das Benehmen der Bullen kein bißchen. Ich war davon überzeugt, daß sie nicht ernsthaft daran dachten, jemanden des Mordes zu verdächtigen. Aber drei von ihnen waren Trolle. Sie hatten den dumpfen Schmerz der trauernden Menge am Karussell gesehen; dieser Kummer hatte ihre Herzen nicht nur höher schlagen lassen, sondern auch ihren Appetit auf weiteres menschliches Leid angeregt. Sie würden alles tun, um unseren Schmerz zu vergrößern, ihn gleichsam zu melken, um sich ja keinen einzigen Tropfen des Grames von Arturo Sombra und uns anderen entgehen zu lassen.
     
    Später machte die Nachricht die Runde, daß der Gerichtsmediziner die Leiche an Ort und Stelle untersucht, Arturo Sombra einige Fragen gestellt und die Möglichkeit eines Mordes verworfen hatte. Zur allgemeinen großen Erleichterung lautete die offizielle Todesursache: ›Tod durch Unfall‹. Alle wußten, daß

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