Zwielicht
bei ihr nicht so versagen wie bei Jelly Jordan.
Vielleicht spürte Rya intuitiv, daß sie Schutz benötigte, und vielleicht spürte sie auch, daß ich ihr helfen wollte, denn am späten Abend begann sie mir einiges über sich zu erzählen, und ich ahnte, daß sie mir Dinge erzählte, die sie keinem anderen Menschen je anvertraut hatte. Sie trank mehr als gewöhnlich, und obwohl sie weit davon entfernt war, betrunken zu sein, vermutete ich, daß sie eine Ausrede für den nächsten Morgen brauchte, wenn sie es bedauern würde, mir soviel über ihre Vergangenheit erzählt zu haben.
»Meine Eltern waren keine Schausteller«, sagte sie in einem Ton, der deutlich machte, daß sie ermutigt werden wollte, mit ihren Enthüllungen fortzufahren.
»Woher kommst du?« fragte ich.
»Aus West Virginia. Meine Eltern waren Bergbewohner in West Virginia. Wir lebten in einer elenden Bruchbude in einer Bergschlucht, einen knappen Kilometer von der nächsten Bruchbude entfernt. Weißt du etwas über die Bewohner abgelegener Gebirgsgegenden?«
»Sehr wenig.«
»Sie sind arm«, sagte sie scharf.
»Das ist keine Schande.«
»Arm, ungebildet, ohne jeden Wunsch nach Bildung, borniert. Verschlossen, mißtrauisch, geheimnistuerisch. Eigensinnig, stur, engstirnig. Und es gibt viel zuviel Inzucht. Eheschließungen zwischen Vetter und Kusine kommen sehr häufig vor. Und Schlimmeres. Viel Schlimmeres.«
Sie erzählte mir von ihrer Mutter, Maralee Sween, und allmählich brauchte ich sie kaum noch zum Weiterreden zu animieren. Maralee war das vierte von sieben Kindern eines Elternpaars, das miteinander verwandt war — Vetter und Kusine. Der Ehebund war weder von einem Geistlichen noch vom Staat legitimiert, war vielmehr lediglich Gewohnheitsrecht. Alle Sween-Kinder sahen gut aus, aber eines war geistig behindert, und fünf weitere waren geistig sehr schwerfällig. Maralee war nicht jenes eine Kind, das aufgeweckt war, aber sie war am hübschesten von den sieben — eine bezaubernde Blondine mit leuchtenden grünen Augen und einer üppigen Figur, weswegen alle Jungen hinter ihr her waren, kaum daß sie ihren dreizehnten Geburtstag gefeiert hatte. Sie sammelte eine Menge sexueller — wenn auch keineswegs romantischer — Erfahrungen, und in einem Alter, da die meisten Mädchen ihre ersten Rendezvous haben und noch nicht einmal genau wissen, was der Ausdruck ›bis zum letzten gehen‹ bedeutet, hatte Maralee schon aufgehört zu zählen, wie viele Bergburschen ihr die Beine gespreizt hatten, im Gras, auf Lagern aus welken Blättern, in alten Heuschobern, auf einer schimmeligen Matratze am Rand der behelfsmäßigen Müllhalde, die in Marmon's Mollow angelegt worden war, und auf den Rücksitzen verschiedener altersschwacher Gebrauchtwagen, auf die diese Hinterwäldler sehr stolz waren. Manchmal war sie scharf auf Sex, manchmal mußte sie vergewaltigt werden, und meistens ließ sie alles gleichgültig über sich ergehen. Im Gebirge war es durchaus nicht unüblich, daß ein Mädchen die Unschuld in so jungen Jahren verlor. Ungewöhnlich war höchstens, daß sie es schaffte, bis nach ihrem vierzehnten Geburtstag nicht schwanger zu werden.
In jener Region der Appalachen hatten die Hinterwäldler die Gesetze und Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft verworfen, doch im Gegensatz zu den Schaustellern hatten diese Bergbewohner keinen eigenen Sittenkodex entwickelt, der diese alten Regeln hätte ersetzen können. In der amerikanischen Literatur gibt es eine Tradition der idealisierten Darstellung des ›edlen Wilden‹, und in unserer Kultur wird oft die Meinung laut, daß ein naturverbundenes Leben fern aller Übel der Zivilisation irgendwie gesünder und vernünftiger sei als das Leben, das die meisten von uns führen. In Wirklichkeit ist häufig genau das Gegenteil der Fall. Wenn Menschen sich von der Zivilisation entfernen, werfen sie das unwichtige Zubehör der modernen Gesellschaft — Luxusautos, elegante Häuser, Designer-Kleidung, Theaterbesuche, Konzertkarten — rasch ab, und vielleicht spricht tatsächlich manches für ein einfacheres Leben, doch wenn diese Menschen sich weit genug und für lange Zeit entfernen, legen sie auch zu viele Hemmungen ab. Durch Religion und Gesellschaft anerzogenes Schamgefühl ist keineswegs töricht, sinnlos oder engstirnig, wie heute gern behauptet wird; viele dieser Hemmungen sind überaus wünschenswerte Errungenschaften, die auf lange Sicht entscheidend zur Erhöhung des Bildungsniveaus
Weitere Kostenlose Bücher