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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Verschwinden brachte. Eine kleine Eidechse, ein Chamäleon, haftete an der Scheibe, den Bauch mir zugewandt, den langen, schmalen Schwanz zum Fragezeichen gekrümmt. Sie war die ganze Zeit über dort gewesen, während ich nur mein eigenes Spiegelbild gesehen hatte, und das rief mir plötzlich ins Gedächtnis, daß wir eigentlich von allem, was wir betrachten, sehr wenig wirklich sehen, daß wir uns meistens mit der einfachen Oberfläche begnügen, vielleicht weil tiefere Einblicke oft von verwirrender und erschreckender Vielfalt sind. Hinter dem Chamäleon sah ich jetzt den strömenden Regen, klirrende Vorhänge aus Billionen silbrig schimmernder Tropfen. Und hinter dem Regenvorhang stand der nächste Wohnwagen, und dahinter kamen weitere Wohnwagen, dann der Rummelplatz, und dahinter die Stadt Yontsdown und hinter Yontsdown... die Ewigkeit.
    Rya murmelte im Schlaf.
    Ich kehrte zum Bett zurück.
    Sie hob sich als Schattenriß vom weißen Laken ab.
    Ich blickte auf sie hinab.
    Mir fiel ein, was Joel Tuck mich am vergangenen Freitag bei unserem Gespräch über Rya gefragt hatte: »Ihre Oberfläche ist so unglaublich schön, und auch darunter verbirgt sich Schönheit, da stimmen wir beide überein... Aber ist es möglich, daß unter dem ›Darunter‹, das du sehen kannst, eine weitere Schicht verborgen ist?«
    Bis zu dieser Nacht, als sie mich ins Vertrauen gezogen und den Alptraum ihrer Kindheit mit mir geteilt hatte, hatte ich eine Rya gesehen, die das Äquivalent meines von Blitzen erzeugten Spiegelbilds in der Fensterscheibe war. Jetzt blickte ich tiefer und war versucht zu glauben, daß ich jetzt die wirkliche, vollständige Frau in allen Dimensionen kannte, doch in Wirklichkeit kannte ich nur einen etwas deutlicheren Schatten der ganzen Wirklichkeit. Zumindest hatte ich jetzt durch die Oberfläche hindurch bis zur nächsten Schicht gesehen, sozusagen bis zur Eidechse auf der Fensterscheibe, doch dahinter verbargen sich unzählige weitere Schichten, und ich spürte, daß ich Rya Raines nicht würde retten können, wenn es mir nicht gelang, in kürzester Zeit möglichst viele dieser Schichten abzutragen.
    Sie murmelte wieder.
    Sie schlug um sich.
    »Gräber«, murmelte sie. »So viele... Gräber.«
    Sie wimmerte.
    Sie flüsterte: »Slim... oh... Slim... nein...«
    Sie bewegte die Beine, so als würde sie rennen.
    »...nein... nein...«
    Ihr Traum, mein Traum.
    Wie konnten wir nur denselben Traum haben?
    Und warum? Was hatte das zu bedeuten?
    Ich stand neben dem Bett, und wenn ich die Augen schloß, konnte ich den Friedhof sehen und den Alptraum vor meinem geistigen Auge ablaufen lassen, während sie ihn im Schlaf sah. Ich wartete gespannt, ob sie mit einem erstickten Schrei aufwachen würde. Ich wollte wissen, ob ich sie in ihrem Traum einholte und umbrachte, wie ich es in meiner eigenen Version des Alptraums getan hatte; denn wenn auch diese Szene übereinstimmte, war es mehr als nur ein Zufall, dann bedeutete es etwas. Wenn sowohl ihr Traum als auch meiner damit endete, daß ich meine Zähne in ihre Kehle grub und ihr Blut emporspritzte, dann mußte ich sie um ihretwillen sofort verlassen, weit weggehen und sie niemals wiedersehen.
    Aber sie schrie nicht auf. Ihre Traum-Panik ließ nach, sie hörte auf zu rennen und um sich zu schlagen und atmete wieder leise und regelmäßig.
    Draußen sangen Wind und Regen ein Klagelied für die Toten und die Lebenden, die sich in einer Friedhofswelt an die Hoffnung klammern.

14 -  Kurz vor Einbruch der Dunkelheit ist es immer am hellsten
     
    Am Dienstagmorgen war die Sonne unter grauen Wolken verborgen, der Sturm hatte sich gelegt, aber es regnete noch in Strömen. Der Regen fiel senkrecht, so als wäre er für Umwege zu müde und zu schwer, drückte das Gras zu Boden, seufzte auf den Dächern der Wohnwagen, glitt matt an Zeltwänden hinab und schlief in Pfützen auf der Erde ein, tropfte vom Riesenrad, rann in Bächen vom Sturzbomber hinab.
    Die Eröffnung des Jahrmarkts wurde um weitere 24 Stunden verschoben.
    Rya bedauerte die Enthüllungen der vergangenen Nacht nicht so sehr, wie ich befürchtet hatte. Beim Frühstück lächelte sie sogar viel häufiger als die Rya, die ich bisher gekannt hatte, und sie zeigte mir ihre Zuneigung durch kleine Gesten so offen, daß ihr Ruf als hartgesottenes, hochnäsiges Luder für immer dahin gewesen wäre, wenn jemand sie beobachtet hätte.
    Als wir später andere Schausteller besuchten, um zu sehen, wie sie sich die Zeit vertrieben,

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