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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Kanäle geleitet hätte, wäre sie früher oder später unter dem enormen Druck zerbrochen.
    Ich bewunderte ihre Kraft.
    Aber sie verbot sich nach wie vor, aus Selbstmitleid zu weinen.
    Und sie verheimlichte mir die Wahrheit über das Waisenhaus, indem sie diese Zeit als ereignislos einfach überging.
    Ich drang jedoch nicht weiter in sie. Zum einen wußte ich, daß sie mir den Rest früher oder später auch noch erzählen würde. Einmal geöffnet, würde sie die Tür nicht wieder verriegeln können. Außerdem hatte ich für einen Tag genug gehört, mehr als genug. Dieses neu erlangte Wissen machte mich ohnehin fast krank.
    Wir tranken.
    Wir sprachen über andere Dinge. Wir tranken noch ein wenig.
    Wir machten das Licht aus und lagen schlaflos im Dunkeln.
    Dann schliefen wir eine Zeitlang.
    Und träumten.
    Der Friedhof...
    Mitten in der Nacht weckte sie mich, und wir liebten uns.
    Es war so schön wie immer, und als wir entspannt nebeneinander lagen, verlieh ich unwillkürlich meiner Verwunderung Ausdruck, daß sie den Liebesakt genießen konnte, nachdem sie jahrelang sexuell mißbraucht worden war.
    »Andere wären vielleicht frigid geworden... oder würden es mit jedem x-beliebigen Mann treiben. Ich weiß nicht, warum beides bei mir nicht der Fall ist. Außer... vielleicht... na ja... wenn ich einen dieser beiden Wege gegangen wäre, so hätte das bedeutet, daß Abner Kady gewonnen hatte, daß es ihm gelungen war, mich zu zerbrechen. Verstehst du? Aber ich lasse mich von niemandem zerbrechen. Niemals. Ich lasse mich lieber biegen als brechen. Ich werde überleben. Ich werde weitermachen. Ich werde die reichste Konzessionärin in diesem Unternehmen sein, und eines Tages wird es mir gehören. Bei Gott, ich werde es schaffen. Das ist mein Ziel, aber laß dir nur nicht einfallen, jemandem etwas davon zu erzählen. Ich werde alles tun, was dafür notwendig ist — hart arbeiten, Risiken eingehen usw. —, und eines Tages wird mir das ganze Ding gehören, und dann bin ich jemand, und dann wird es keine Rolle mehr spielen, von wem ich abstamme und was mir widerfahren ist, als ich ein kleines Mädchen war. Es wird keine Rolle mehr spielen, daß ich meinen Vater nie gekannt habe, oder daß meine Mutter mich nie geliebt hat. Das alles werde ich dann vergessen haben, so wie ich meinen hinterwäldlerischen Dialekt vergessen habe. Du wirst schon sehen, daß ich es schaffe. Wart nur ab. Du wirst es schon sehen.«
    Ganz am Anfang dieser Geschichte sprach ich davon, daß die Hoffnung unsere ständige Begleiterin in diesem Leben ist. Sie ist das einzige, was weder die grausame Natur noch Gott noch ein anderer Mensch uns rauben kann. Gesundheit, Reichtum, Eltern, geliebte Geschwister, Kinder, Freunde, die Vergangenheit, die Zukunft — alles kann uns so leicht genommen werden wie eine unbewachte Tasche. Aber unser größter Schatz bleibt — die Hoffnung. Sie ist wie ein eigensinniger kleiner Motor, der uns antreibt, wenn die Vernunft uns nahelegt aufzugeben. Sie ist das Erschütterndste und Edelste, was wir besitzen, das Absurdeste und Bewundernswerteste, denn solange wir Hoffnung haben, können wir auch lieben und uns bemühen, anständig zu sein.
    Kurz darauf schlief Rya wieder ein.
    Ich nicht.
    Jelly war tot. Mein Vater war tot. Bald würde vielleicht auch Rya tot sein, wenn es mir nicht gelänge, die ihr drohende Gefahr zu erkennen und von ihr abzuwenden.
    Ich stand im Dunkeln auf, ging zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite, gerade als draußen mehrere Blitze zuckten, die das Glas in einen Spiegel verwandelten. Mein schwaches Spiegelbild flackerte wie eine Flamme, ähnlich wie in manchen alten Filmen, wenn der Regisseur das Vergehen der Zeit andeuten wollte. Bei jeder Verdunklung und Aufhellung meines Spiegelbilds hatte ich das Gefühl, als würden mir Jahre entrissen, aber ich wußte nicht, ob es sich nun um Jahre aus meiner Vergangenheit oder aus meiner Zukunft handelte.
    Während die Blitze mir den Blick nach draußen versperrten und ich nur mein Spiegelbild sehen konnte, überfielen mich solipsistische Ängste, hervorgerufen durch Müdigkeit und Traurigkeit. Ich hatte das Gefühl, als existierte nur ich allein, als wäre mein Ich das einzig wirkliche, während alles andere sowie alle anderen nur Schöpfungen meiner Fantasie wären. Doch dann, als die Blitze vorüber waren und das Glas wieder durchsichtig wurde, sah ich an der nassen Außenfläche des Fensters etwas, das meine ichbezogenen Vorstellungen schlagartig zum

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