Zwielicht
die Straße breit war, und maß an seinem Fuß etwa die Hälfte ihres Durchmessers. Vaughn zückte den Trikorder und versuchte einen Sensorscan, doch die Interferenzen machten dies unmöglich.
Also ging er weiter, den Blick auf das Gebilde gerichtet, und hielt nach einer Bewegung Ausschau. Vergebens. Welchen Zweck mochte der Turm erfüllen? War er einst ein Grenzposten gewesen? An seinem unteren Ende konnte er eine rechteckige Öffnung erkennen, oberhalb derer eine mehrfach unterbrochene vertikale Linie verlief.
Der Turm schien aus dunklem, unebenem Stein zu bestehen und …
Vaughn blieb stehen. Abermals bemühte er den Trikorder erfolg-los, doch das war egal. Mittlerweile reichten ihm seine Augen, um zu wissen, was er da vor sich hatte. Dieser Turm sah aus wie der im Stadtzentrum der Vahni.
Weniger als eine Viertelstunde später hatte er ihn erreicht. Seit einigen Minuten konnte er das Gebäude scannen: Stein und Mörtel, vier Stockwerke hoch. Ein einzelner Zugang und eine innen bis zum Dach führende Treppe. Vaughn kannte die Spezifikationen des Ori-ginalturmes nicht, konnte also keine verlässlichen Vergleiche anstel-len, aber in seiner Erinnerung waren beide identisch.
Was geschieht hier? Steckte er irgendwo in einer Holosuite fest? Passierte all das nur in seinem Geist? Vielleicht lag er noch immer zwischen den Trümmern der Chaffee , bewusstlos oder im Koma, und bildete es sich nur ein.
Andererseits … Es fühlte sich nicht wie ein Holoprogramm, eine Illusion oder ein Traum an. Seit dem Absturz war mehr als ein Tag vergangen, und alles – Prynns Rettung, ch’Thanes Wunden, der stundenlange Marsch durch die Ödnis und die rätselhafte Stadt –
hatte absolut real gewirkt. Allerdings galt das auch für Harriman.
Vaughn stand neben dem Eingang des Turmes und legte eine Hand gegen die Wand. Sie war kalt, hart und rau. Er zog den Phaser, stellte ihn auf eine nichttödliche Stärke ein, wandte sich um und schoss in die Richtung, aus der er gekommen war. Etwa zehn Meter weiter bohrte sich der gelbrote Energiestrahl in den Straßenbelag, und ein schrilles Geräusch störte die Stille. Zehn Sekunden lang feuerte Vaughn, dann erst ließ er den Abzug los. Der getroffene Belag glühte. Vaughn nahm den Trikorder und scannte die Stelle: verflüs-sigte Gesteinsverbundstoffe und Bindematerial. Das bewies wenig, machte die Umgebung aber etwas glaubhafter.
Als Nächstes widmete er sich dem Turm, hob den Phaser und feuerte erneut, länger, und wieder glühte Gestein. Er scannte es, bekam die erwarteten Werte angezeigt … und eine Lebensform! Dem Scan zufolge befand sie sich auf dem Dach des Turmes. Ein Vahni Vahltupali.
Vaughn streifte sich die Wasserkanister ab und legte sie auf die Straße. Seine Matte ließ er folgen. Den Phaser auf Betäubung gestellt, betrat er den Turm. Vorsichtig, mit der Waffe auf Hüfthöhe, wagte er sich vor. Hinter der dunklen Mauer war es kühler als drau-
ßen, sogar leicht feucht. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wandte sich nach links und begann, die Treppe hinaufzugehen. Jede Stufe erinnerte ihn an den Tag auf der Welt der Vahni.
Drei Minuten später war er oben. Mit dem Rücken zur Treppe stand er auf der Schwelle zum Dach und sah auf seinen Trikorder, der die Anwesenheit eines Vahni nach wie vor bestätigte. Vaughn hob den Phaser, steckte den Trikorder weg und ging weiter.
Am anderen Ende des Daches, einen Stoffbeutel vor sich, stand Ventu – oder jemand, der ihm glich wie ein Ei dem anderen. Schweigend trat Vaughn näher, und mit einem Mal zog ein Blitz aus Licht und Formen über den Leib des Vahni. »Sie sind erneut willkommen« , erklang die leicht mechanisch wirkende Stimme des Übersetzergeräts. Als Vaughn an sich hinabsah, fand er nur seine lädierte Uniform unter seinem offenen Mantel, jedoch nicht das Gitternetz, das Teil des Übersetzers der Vahni gewesen war.
Er hob den Kopf. »Wer sind Sie?«
Plötzlich neigte sich der Turm nach rechts. Vaughn und Ventu verloren das Gleichgewicht, stürzten in verschiedene Richtungen. Wie schon bei Harriman in der Stadt war Vaughn, als erlebe er ein Déjà-
vu. Er riss die Hände hoch, um seinen Sturz abzufangen, doch dabei entglitt ihm die Waffe. Hart prallte er mit der linken Schläfe gegen den steinernen Untergrund. Grollen lag in der Luft, wie von zahlreichen Explosionen. So klang ein Erdbeben, wusste Vaughn, der all dies bereits erlebt hatte.
Der Turm wackelte gefährlich hin und her.
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