Zwielicht
Vaughn richtete sich auf und hielt sich an der Brüstung fest. Als er zu Ventu – beziehungsweise dem vermeintlichen Ventu – blickte, sah er, was er erwartete: Angst, gespiegelt in den Wellen, die über den Leib des Vahnis zogen. Er hatte seine Tentakel eng um sich geschlungen. Der Anblick ließ Vaughn jegliches Zögern vergessen. In dem Wissen dessen, was kommen würde, entschloss er sich, das Wesen zu beschützen. Wenn sie den Einsturz überlebten, bekam er von dem Vahni vielleicht ein paar Antworten.
Mühsam stolperte er auf Ventu zu. »Wir müssen uns wappnen«, rief er und hielt sich demonstrativ die Arme um den Kopf. »Ventu, schützen Sie Ihren Kopf.« Auf der Vahni-Welt war Ventu an einer Schädelverletzung gestorben. Vielleicht gelang es Vaughn, ihn …
In diesem Augenblick brach der Turm zusammen.
Vaughn wusste nicht, ob er das Bewusstsein verloren hatte. Er wusste nur, dass das Beben vorbei und das Donnergrollen verhallt waren. Langsam hob er den Kopf, sah sich um und fand sich auf einem Berg aus Gestein wieder, der einst ein Turm gewesen war. Ein Nebel aus Staub hing in der Luft, und während Vaughn zum Boden hinab-stieg, löste sich eine wahre Lawine aus Geröll. All das kannte er gut.
Er bewegte sich vorsichtig, testete seinen Körper. Der Schmerz in seinen Gliedern war so vertraut wie alles andere. Vaughn glaubte sogar fast, er müsse nach Bowers und Roness rufen, wie er es zuvor getan hatte, doch hier gab es keine Vahni-Stadt voller panischer Fußgänger. Keine Rauchsäulen ragten in den Himmel, und keine Lasersignale warnten vor der Gefahr. Stattdessen sah er nur ödes Land und eine Straße, die sich in der Ferne verlor.
Einige Minuten später hatte er den Boden des Steinhaufens erreicht und sah an sich hinab. Sein Mantel war schmutzig und der Zustand seiner Uniform glich dem nach dem Einsturz auf der Vahni-Welt fast bis ins Detail. Blut trat aus mehreren Schnittwunden in seinen Händen, und als er sich an die Schläfe griff, wurden seine Finger feucht.
Vaughn umkreiste den Trümmerhaufen, wedelte den Staub fort und suchte nach Ventu. Nach einem Drittel des Weges hatte er damals Bowers, Roness und den zweiten Vahni gefunden. Diesmal fand er niemanden.
Also weiter. Ventu lag einige Schritte entfernt auf den Trümmern, etwa drei Meter oberhalb des Bodens. Seine Tentakel ruhten leblos auf den Steinen. Sein Körper war von Wunden gezeichnet, und sein Schädel hatte unzweifelhaft Schaden genommen. Ein tiefer Schnitt ging durch seinen Augenring, und ein eitriges Sekret strömte daraus hervor.
Vaughn zog den Trikorder aus der Tasche, der dankenswerterweise nicht verlorengegangen war, und die Anzeigen bestätigten ihm abermals, einen Vahni vor sich zu haben. Einen toten Vahni.
Unbändige Trauer stieg in Vaughn auf und drohte, ihn mitzurei-
ßen. Selbst wenn es sich bei dem Wesen dort nicht um Ventu gehandelt hatte, war Ventu doch gestorben – nicht hier und jetzt, aber vor einer Woche auf der Welt der Vahni. Ventu, dreitausend seiner Art-genossen und Ensign Roness, alle tot.
Vaughn trat von den Trümmern fort und ging zu seinen Vorräten, setzte sich auf die Straße, sah aber nicht zurück. Mit Wasser aus seinen Kanistern befeuchtete er eine Ecke seines Mantels, wischte sich das Blut von der Stirn und übte Druck auf die dortige Wunde aus.
So verharrte er mehrere Minuten und hoffte, die Blutung zu stillen.
Seine Gedanken kehrten zu den Vahni Vahltupali zurück. Diese wunderbare Spezies stand für alles, was er im Universum zu entdecken gehofft hatte. Sie waren die Gegenthese dessen, was Vaughns eigene Lebenserfahrung gewesen war: froh und freundlich, friedlich und besonnen. Er hätte sich keine bessere Begegnung für seine erste Reise wünschen können.
Und dennoch zog es mich weiter , entsann er sich. Die restliche Besatzung hatte mehr Zeit mit den Vahni verbringen wollen, er aber hatte nach vorn geblickt, zur nächsten Entdeckung, zum nächsten Wunder auf ihrem Weg. Ich bin die Mission angegangen, als sei sie ein Spio-nageeinsatz , erkannte er. Ein Ziel abgehakt, das nächste im Visier. Ohne Zeit für Reflexion und Ruhe, nur vom Willen nach Fortschritt getrieben.
Die Besatzung hatte die Begegnung mit den Vahni genossen. Einzig er hatte sie schlicht als Erfolg verbucht. Wo war seine Freude gewesen, wollte er nun wissen, wo sein Interesse am Unbekannten? Irgendwie war ihm der ganze Sinn seiner eigenen Forschungsmission entgangen, und diese Erkenntnis traf ihn tief.
Als die Blutung
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